© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/22 / 25. Februar 2022

Der Europäischen Zentralbank verdanken wir die Stagflation
Alles war vorhersehbar
Joachim Starbatty

Carmen Reinhart, seit 2020 Chefökonomin der Weltbank, hat vor der Gefahr einer Stagflation gewarnt, „auch wenn es verfrüht ist, das jetzt schon so zu benennen“. Doch die Zentralbanken stehen längst vor diesem Dilemma: Wollen sie die Inflation bekämpfen, indem sie die Geldmenge drosseln und die Zinsen erhöhen, dämpfen sie die wirtschaftliche Aktivität und verschärfen die Stagnation. Wollen sie die unternehmerische Tätigkeit beleben, stärken sie die inflatorischen Auftriebskräfte. Aber das alles war vorhersehbar.

Wer rechtzeitig auf die Gefahren der Nullzinspolitik und der Geldschwemme für die Geldwertstabilität hinwies, mußte sich sagen lassen, wir lebten inzwischen in einer anderen Welt, wo nicht Inflation, sondern Deflation zu bekämpfen sei. Zudem ist die EZB-Politik seit 2012 – dem maßlosen „Whatever it takes“-Rettungsverprechen von Mario Draghi – überdeterminiert: Zusammenhalt der Eurozone oder Sicherung der Geldwertstabilität. Nullzinspolitik und Geldschwemme sind die Konsequenzen. Die EZB hält über ihre verdeckte Staatsfinanzierung überschuldete Mitgliedstaaten in der Währungsunion. Insofern sind der EZB die Hände gebunden: Bekämpft sie die Inflation, muß sie befürchten, daß die Eurozone auseinanderbricht. Daher betreibt sie eine Doppelstrategie: Sie bleibt bei ihrer Politik, sagt aber der Öffentlichkeit, daß sie sich in ihrer Sorge um Preisstabilität von niemandem übertreffen lasse. Sie redet inflatorische Gefahren klein. Sie gingen vorüber, wenn Einmaleffekte wie partielle Steuer­erhöhungen, ausgestanden seien.

Inflation ist unsozial: Steigende Preise treffen diejenigen besonders hart, die mit ihrem Einkommen gerade über die Runden kommen. Inflation muß man bekämpfen, bevor sie die Macht errungen haben. Draghis Nachfolgerin Christine Lagarde sollte nicht noch ein weiteres Jahr untätig zusehen. Die industriellen Erzeugerpreise signalisieren längst einen kräftigen Inflationsschub. Steigende Zinsen werden in einem inflationären Umfeld als zusätzliche Kosten an die Abnehmer weitergereicht. Die Gewerkschaften werden nicht länger stillhalten, weil sie um ihre Legitimationsbasis fürchten. Sie sehen sich gezwungen, finanzielle Kompensationen für ihre Mitglieder einzufordern.

Und dann sind wir mittendrin in einer Preis-Lohn-Spirale. Die EZB und die Politik haben so gehandelt, als ob es kein Morgen gäbe. Die EZB hat sogar Negativzinsen erhoben, damit die Banken die bei ihnen ankommende Geldschwemme nicht horten, sondern an Unternehmen weiterreichen, auch wenn diese wenig kreditwürdig waren. Draghi hat zwar eingeräumt, daß seine Politik die Sparer schädige, doch käme sie der Bevölkerung insgesamt zugute, weil Arbeitskräfte nicht entlassen würden. Und das würde den Verlust auf den Sparkonten mindestens ausgleichen. In dieser Geldflut sind auch Unternehmen mitgeschwommen, die aus eigener Kraft nicht überlebensfähig waren. So hat diese Geldpolitik eine „Zombie-Wirtschaft“ geschaffen.

Warren Buffett, seit Jahrzehnten erfolgreicher US-Investor, bringt es auf den Punkt: Wenn die Ebbe kommt, sieht man, wer keine Badehose anhat. Die Geldmengenflut hat wie eine Droge gewirkt. Bei einem Entzug geht unsere Wirtschaft durch das Jammertal der Stagnation. So haben wir der EZB beides zu verdanken – inflatorischen Auftrieb und Stagnation.






Prof. Dr. Joachim Starbatty ist Ökonom und war bis 2019 Abgeordneter des EU-Parlaments.