© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/22 / 25. Februar 2022

Schöne neue Zensur-Welt
Publizistik: Ein Gespräch über Meinungskorridore, Sprachregelungen und Cancel Culture
Oliver Busch

Mit ihren akademischen Qualifikationsschriften, der Dissertation über die Kindheitsmotivik bei Marie Luise Kaschnitz (1997) und der zur Habilitation an der Technischen Universität Darmstadt eingereichten Monographie über „Parodie und Moderne von 1870 bis 1914“ (2005) hat die Literaturwissenschaftlerin Nikola Roßbach (Universität Kassel) naturgemäß nur ein handverlesenes Publikum erreicht, ebenso  wie mit ihren folgenden Spezialstudien zur frühneuzeitlichen Literaturgeschichte.

So etwas wie ein Ausbruch aus der Quarantäne des Elfenbeinturms gelang ihr erst 2018 mit dem bei Ullstein, einem nicht gerade für ein wissenschaftlich-esoterisches L’art pour l’art-Programm bekannten Publikumsverlag, veröffentlichten Werk mit dem knalligen Titel „Achtung Zensur!“ Damit traf sie mitten hinein in eine „heiße Debatte“. Das Buch, eine Kulturgeschichte der Kontrolle des gedruckten Wortes, bescherte ihr einen Preis der Friedrich-Ebert-Stiftung, zahllose Interviews im Feuilleton der „Qualitätspresse“ und begründete ihren Ruhm als führende „Zensur-Historikerin“.

Roßbach scheint damit inzwischen ihre berufliche Erfüllung gefunden zu haben, so daß sie richtig groß in dieses Thema eingestiegen ist. Denn seit 2019 arbeitet sie an einem höchst ehrgeizigen Forschungsprojekt: der „Kasseler Liste“. Einer Datenbank, die bis heute 120.000 verbotene Bücher aus der ganzen Welt verzeichnet. Ihr „hehres Ziel“, das sie im Gespräch mit dem Historiker Daniel Schönpflug (FU Berlin) markiert (Zeitschrift für Ideengeschichte, 1/2022), ist eine „globale Kartierung gegenwärtiger Zensur“. Momentan speise sich das Unternehmen zwar eher aus vielen historischen Segmenten wie verbotenen Büchern des römisch-katholischen Indexes, der NS-Zeit, der Sowjetischen Besatzungszone in Mitteldeutschland, sowie von anderen europäischen wie von afrikanischen und südamerikanischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts „aussortierten“ Werken. Die Datenbank sei darum bei weitem noch nicht tragfähig genug, um die angepeilten „großen statistischen Vermessungen globaler Zensur“ leisten zu können. Immerhin liefere sie jedoch schon „aussagekräftige Einzelanalysen“. So könne man nach bestimmten Werken, Grimms Märchen, Hitlers „Mein Kampf“, Goethes „Faust“, „Harry Potter“ oder „Mickey Mouse“ fahnden und prüfen, wo sie wann verboten waren. 

Allerdings, räumt Roßbach zerknirscht ein erhebliches Manko ein: die Frage nach dem Warum des Verbots beantworte ihre Liste leider nicht. Ein Rätsel bleibt daher nicht nur, warum hier und da mal der Bannstrahl der Zensur nicht nur Finsterlinge wie Hitler, sondern auch Lichtgestalten wie Goethe treffe, warum texanische Gefängnisbibliotheken noch im 21. Jahrhundert keine „Hexenbücher“ aufnehmen dürfen, warum das für inhaftierte Freunde der Energiewende gewiß unentbehrliche Handbuch „How to Build a Solar Cell That Really Works“ ihnen dort gnadenlos vorenthalten wird. Fragen, die jeden Nutzer zum „Weiterforschen“ einladen. Ob ihm das eine insoweit komplettierte Datenbank eines Tages abnimmt, verrät Roßbach nicht.

Überhaupt ist Beschränkung Gebot der Stunde, um die ungeheure Masse des aktuell Verbotenen zu digitalisieren. Dafür operiert Roßbach mit einem engen Begriff von Zensur, der nicht jeden sozialen Kontroll- und Beschränkungsmechanismus als Zensur berücksichtigt, sondern reserviert ist für die „umfassende, strukturell und institutionell verankerte Kontrolle von Meinungsäußerungen“.

Zensur geht auch von privaten Unternehmen aus

Wie sie selbst einwendet, könnte dieser auf staatliche Kontrolle fixierte Begriff, gerade weil ihre Datenbank den aktuellen Stand weltweiter Zensur abbilden will, veraltet sein. „Denn heute gehen die größten Gefahren für die Meinungsfreiheit nicht mehr vom Staat aus, jedenfalls nicht bei uns, in einem demokratischen Rechtsstaat“ – wie sie reichlich naiv annimmt. Vielmehr seien es im digitalen Zeitalter „eher nicht-staatliche Kontrollmechanismen, die systematisch wirken und unsere Kommunikation massiv prägen“. Daher müsse man durchaus darüber nachdenken, ob es noch genüge, das Zensurverbot lediglich auf den Staat zu beziehen, oder nicht auch privatwirtschaftliche Unternehmen via Drittwirkung in die Pflicht zu nehmen wären. Der Staat hätte mithin eine Schutzpflicht ebenso in bezug auf soziale Netzwerke und Provider, die „per Geschäftsordnung eine Art Privatrecht für Milliarden Menschen schaffen und auf vielfältige Weise zensuranalog wirken“.

Das vom vierten Merkel-Kabinett erfundene famose Netzwerkdurchsetzungsgesetz  hält Roßbach bestenfalls für ein „zweischneidiges Schwert“, das angesichts der „völlig neuen Herausforderungen“ für effiziente Meinungskontrolle versage. Daß der Staat einen Teil der Strafverfolgung von Gesetzesverstößen im Internet auf IT-Giganten abwälzt, findet Roßbach im Prinzip „ja erst mal gut“. Wenn deren intransparente, unkontrollierte Löschpraktiken aber ihrerseits die Meinungsfreiheit im Netz gefährden, würden sie zum Problem. 

Jedoch nicht, wenn es aus der Sicht von Roßbach und ihrem Gesprächspartner Schönpflug die Richtigen erwischt. „Haßkriminalität“ im Netz geht für beide westdeutsch sozialisierten Haltungsakademiker mit gußeisernem Weltbild offenbar ausschließlich vom „Rechtsextremismus“ aus. Oder von „Populisten“ wie Donald Trump und ähnlichen „Leuten, die Lügen verbreiten, Haß säen und eigene Wirklichkeiten fabrizieren“, wie der in seiner eignen Wirklichkeit behaglich eingerichtete Professor Schönpflug behauptet. Roßbach denkt hier großzügiger: Natürlich finde sie es „unglaublich entspannend“, nicht mehr täglich mit den „unsäglichen Äußerungen des ehemaligen US-Präsidenten, den ich persönlich für unberechenbar und gefährlich halte, konfrontiert zu sein“. Trotzdem, wäre sie Mark Zuckerberg, würde sie Trump nicht sperren. „Als Demokratin“ gelte ihr Meinungsfreiheit nun einmal als „höchstes Gut“, das jetzt von den „neuen Zensoren“ Facebook, Twitter und Google bedroht werde.

Obwohl so linksliberal konditioniert wie der an einem Geschichtsbild, das „europäische Identität“ erzeugen soll, schnitzende Schönpflug, für den alle „Zensurbegehren von rechts“ ausgehen, urteilt Roßbach ein wenig differenzierter. Tatsächlich kämen sie heute „eher von links“, und zwar absurderweise im Namen des Kampfes gegen „Diskriminierungen aller Art“. Was sie aber nicht so beunruhige wie die harten Löschungen und Sperrungen der IT-Zensoren. Bewege sich doch die Cancel Culture, ungeachtet „rigider Ausschläge“, in eine „prinzipiell gute Richtung auf dem Weg hin zu einer Gesellschaft ohne Diskriminierung“. Dieser Zweck heiligt für Roßbach offenbar auch das Mittel „nicht-staatlicher Zensur“. 

 www.wiko-berlin.de

Verzeichnis zensierter und verbotener Bücher

 www.kasselerliste.com

Foto: In einer Datenbank, der sogenannten Kasseler Liste, sind rund 120.000 verbotene Bücher aus allen Zeiten und Ländern verzeichnet