© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/22 / 25. Februar 2022

Dorn im Auge
Christian Dorn

Mein vom Balkan stammender Gastronom, dessen Auto defekt ist, muß den Sonntagabend erstmals mit der U-Bahn fahren. Auf meine Warnung entgegnet er: „Wieso, ich bin Ausländer, die haben doch Angst vor mir.“ Während er in seinem Café mich immer wieder vor anderen spaßeshalber mit dem Hinweis diskreditiert, ich sei Autor der „heute-show“ oder der taz (in der tatsächlich mal vor Jahrzehnten drei Texte von mir erschienen waren), wird letztere Unterstellung in der Linie U2 – die jede Freitagnacht eine Freakshow bietet – beinahe lebensgefährlich. Eine derangierte, angetrunkene Frau in buntem Kostüm verhört sich, als ich mit Mitarbeitern der FDP-Bundestagsfraktion ins Gespräch komme und auf deren Nachfrage erwidere, daß ich gewissermaßen für die „rechte taz“ arbeite. Daraufhin wird die Betrunkene, die nur „taz“ gehört hatte (und angeblich mit der taz-Chefin bekannt sei), aggressiv und will auf mich losgehen – instinktiv strecke ich mein rechtes Bein hoch, schließlich leben wir in Zeiten des „Distancing“, das sich in dem Augenblick eher zu einem „Diss-Dancing“ entwickelt.

TürkInnensturm, oder: „Wenn einer keine Reise macht, / dann kann er   Erbsen zählen ...“

Am nächsten Morgen grüßt nicht das Murmeltier, sondern das täglich überraschende Programm des globalen Cancel Culture Clubs. So präsentiert der Deutschlandfunk das Katz-und-Maus-Spiel in New York, wo der Holocaust-Comic „Maus“ von Art Spiegelmann in der Bestsellerliste der New York Times auftaucht, nachdem er von einer Schule in den US-Südstaaten aus politisch-korrekten Gründen, hier der „Wokeness“ (wegen drastischer Darstellung und obszöner Sprache), vom Lehrplan entfernt wurde. Tage später gerate ich unversehens selbst in das Programm des Cancel Culture Clubs, nachdem der – geschlechtergerecht formuliert – TürkInnensturm Zeynep Berlin blockiert hat, so daß mich kein Zug nach Bad Pyrmont fährt zur Verleihung der Roland-Baader-Medaille. Stattdessen werde ich genötigt, zur Fahrpreiserstattung ein bürokratisches Formular auszufüllen, wohl nach dem Motto: „Wenn einer keine Reise macht / Dann kann er Erbsen zählen …“ Viel besser bringt das staatliche Verhängnis der vor zehn Jahren verstorbene Roland Baader in seinen Aphorismen auf den Punkt, etwa in seinen „Aphoristischen Impfungen“, die 2008 unter dem Titel „Freiheitsfunken“ erschienen sind, etwa zum Thema Corona-Politik: „Staatsmedizin macht ein Volk arm und krank – und die Funktionäre des Gesundheitswesens reich.“ 


Eine gesunde Skepsis gegenüber dem Staatsgeld hat auch der aufgeweckte Sohn meines Gastronomen, der begeistert in Bitcoin und – im wahrsten Wortsinn – „affige Bilder“ (digitale Assets namens NFT) investiert, wo er mit wenigen hundert Euro bereits mehrere zehntausend Euro verdient hat und mich ermuntert, es ihm nachzutun. Da ich im Tagesspiegel gerade von der Inflation in der Türkei gelesen habe, bin ich verständnislos ob seiner scherzenden Aufforderung, ich könne ja meine „Lira“ verkaufen – natürlich habe ich mich verhört, tatsächlich meint er die Niere. Da wird mir bewußt: Nierchen standen hier schon lange nicht mehr auf der Speisekarte.