© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/22 / 25. Februar 2022

Zwischen Schule und Straßenkrawall
Kino I: Mit „Belfast“ setzt Regisseur Kenneth Branagh seiner Heimatstadt ein filmisches Denkmal
Dietmar Mehrens

Alles beginnt am 15. August 1969. Irische Katholiken, verärgert über andauernde Diskriminierung, und Protestanten, die in der nordirischen Hauptstadt Belfast die Mehrheit bilden, gerieten heftig aneinander. Es gab acht Tote und mehr als 750 Verletzte. Ein dreißigjähriger Bürgerkrieg war die Folge.

Meisterregisseur und Hercule-Poirot-Darsteller Kenneth Branagh läßt seinen neuen Film an diesem denkwürdigen Tag beginnen, indem er den neunjährigen Buddy (Jude Hill), aus dessen Sicht die Ereignisse geschildert werden, in Straßenkrawalle geraten läßt. Nur dank des beherzten Eingreifens seiner resoluten Mutter (Caitríona Balfe) entgeht der Knabe ihnen unbeschadet.

Finales Kräftemessen mit Western-Filmmusik

Damit sind die unruhigen äußeren Umstände etabliert, die Branagh dazu verwendet, die Erinnerungen an seine eigene Kindheit in Belfast im Licht einer anhaltenden Bedrohung erscheinen zu lassen. Denn eigentlich – und das ist zumindest in der ersten Hälfte des Films sein Problem – sind die typischen Abenteuer eines Heranwachsenden nichts, weshalb die Welt den Atem anzuhalten geneigt wäre. Ein bedrohlich wirkender Geistlicher, ein Ladendiebstahl als Mutprobe, ein Opa (Ciarán Hinds), der schwer erkrankt, eine Klassenkameradin, in die der Junge sich verguckt: bei alledem kann man als Kinobesucher viel entspannter zuschauen als bei den Alltagsdramen in der Bestsellerverfilmung „Die Asche meiner Mutter“ (1999), die ebenfalls eine Kindheit in Irland zum Thema hatte.

Tatsächlich ging es dem 1960 in Belfast zur Welt gekommenen Filmemacher erkennbar mehr darum, Stimmungen, Befindlichkeiten, das Lebensgefühl einer Kindheit in den Sechzigern darzustellen als die opulenten Straßenschlachten aus dem Scorsese-Epos „Gangs of New York“ (2002) auf der irischen Insel zur Wiederaufführung zu bringen.

Mit zwei Dauerkonflikten, die sich als rote Fäden durch die Handlung ziehen, versucht der Autor und Regisseur Spannung aufzubauen, was auch leidlich gelingt. Konflikt Nummer eins wirkt dabei etwas konstruiert: Ein radikaler Protestant, ein Aufwiegler und Unruhestifter, fordert Buddys Vater (Jamie Dornan) immer wieder heraus: In seinen Augen muß den katholischen Aggressoren, die die protestantische Gemeinde bekriegen, mit viel mehr Härte begegnet werden. Ein finales Kräftemessen unterlegt der Regisseur mit der berühmten Filmmusik aus Fred Zinnemanns Westernklassiker „Zwölf Uhr mittags“ (1952). Man kann das durchaus ein wenig dick aufgetragen finden.

Konflikt Nummer zwei ergibt sich fast zwangsläufig aus Konflikt Nummer eins: Buddys Vater, der in England eine lukrative Arbeit gefunden hat, trägt sich schon länger mit Abwanderungsgedanken. Selbst Kanada und Australien erscheinen ihm lebenswerter als seine friedlose nordirische Heimat. Buddys Mutter ist von der Idee nicht angetan. Und als der Junge selbst davon hört, bricht es aus ihm heraus: „Ich will Belfast nicht verlassen!“

Wie die Western, die der Knirps im Fernsehen oder im Kino anschaut, präsentiert Branagh seinen Film in nostalgischem Schwarzweiß und läßt als kleinen Kunstgriff nur Theater- und Lichtspielerlebnisse seines jugendlichen Helden, einen Ausschnitt aus dem Urzeitdrama „Eine Million Jahre vor unserer Zeit“ (1966) und einen aus dem Filmmusical „Tschitti Tschitti Bäng Bäng“ (1968), in kunterbunten Farben erstrahlen. Sie symbolisieren den Reiz des Künstlerischen, das wie eine verlockende Frucht in das farblose Grau des Belfaster Straßenalltags hereinragt. Ihrem Duft, der zugleich der Duft der weiten Welt ist, dürfte der spätere Shakespeare-Regisseur als junger Kinogänger genauso erlegen sein wie sein Alter ego Buddy. 

Kinostart ist am 24. Februar 2022

Foto: Der neunjährige Buddy (Jude Hill) mit seinem Vater (Jamie Dornan; li.) und den Großeltern: „Ich will Belfast nicht verlassen!“