© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/22 / 25. Februar 2022

Zerstörungen dokumentieren
Meinungsfreiheit: Cancelculture.de sortiert den Irrsinn der allgegenwärtigen Zensur
Boris T. Kaiser

Selten zuvor waren die Grenzen des Mainstreams so eng gesteckt wie heute. Die Hauptschuld an dieser, die Kreativität und das Denken einschränkenden Entwicklung trägt ohne Zweifel die in den letzten Jahren immer stärker gewordene Cancel Culture. Eine kleine lautstarke Minderheit hat, unter Zurhilfenahme der Sozialen Medien, ihre Macht über den öffentlichen Diskurs aufgebaut und weitet diese konsequent aus. Politische Parteien, TV-Sender und Verlagshäuser widmen dem Scheinriesen aus dem Netz inzwischen oft mehr Aufmerksamkeit als Meinungsumfragen oder Einschaltquoten und Verkaufszahlen. 

Ein einfacher Shitstorm im Internet kann einen von einem Tag auf den anderen alles kosten, was man sich an Reputation über Jahre und Jahrzehnte mühsam aufgebaut hat. Um zum Aussätzigen zu werden, muß man nicht einmal mehr ein in irgendeiner Weise geschlossenes dissidentes politisches Weltbild haben. Es genügt bereits, wenn man in einem einzigen Themenbereich vom offiziellen und „politisch korrekten“ Narrativ abweicht. Eine ablehnende Haltung gegenüber unkontrollierter Masseneinwanderung, Verweigerung der neuen Gendersprache, eine kritische Meinung zum Islam, eine andere Definition dessen, was echter Rassismus ist, sich nicht von der allgemeinen Klimahysterie anstecken lassen und natürlich Kritik an der Corona-Politik der Bundesregierung: die Liste des „Unsagbaren“ ist lang und wird nahezu täglich länger.

Unbekannte „kleine“ Fälle sichtbar machen

Die Internetseite cancelculture.de will sich dieser stetigen Machterweiterung der neuen öffentlichen Moralhüter entgegenstellen, indem sie die multimediale Empörungsflut zusammenträgt und zentral und übersichtlich nach Monaten sortiert archiviert. Ein besonderes Augenmerk legen die Macher der Seite „Für Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt“ dabei darauf, aufzuzeigen, wie die Cancel Culture mittlerweile auch das Leben vieler einfacher und ganz normaler Leute betrifft, deren Fälle in der Berichterstattung sonst kaum bis gar keine Aufmerksamkeit erfahren. 

So zum Beispiel der Fall eines Schreibwarenladens, der in der Corona-Zeit als Partnerfiliale der Deutschen Post/DHL wegen des Aufhängens eines Plakats „für maskenfreie Schulen“ Ärger mit dem Gesundheitskollektiv bekam. Der Initiator des fortlaufenden Cancel-Culture-Archivs ist der Journalist Kolja Zydatiss. Der in Berlin geborene und aufgewachsene Autor beschäftigt sich schon länger mit dem Phänomen. Im März vergangenen Jahres erschien sein mit dem „Ferdinand-Friedensburg-Preis“ ausgezeichnetes Sachbuch „Cancel Culture: Demokratie in Gefahr“ (Solibro Verlag). Auch in seiner Kolumne „Der/die Ausgestoßene der Woche“ für den Polit-Blog „Die Achse des Guten“ befaßt sich der 32jährige regelmäßig mit der Verbannung unliebsamer Meinungen und Personen aus dem öffentlichen Diskurs. 

Gegenüber der JUNGEN FREIHEIT sagt er zu seinem Engagement: „Ein Klima der Disziplinierung und Einschüchterung von Menschen, die sich öffentlich geäußert haben, der extremen Moralisierung und Hypersensibilität, hat mittlerweile die verschiedensten Lebensbereiche und sozialen Milieus erfaßt.“ Zydatiss sieht in der Cancel Culture eine „Fehlentwicklung, die unserer demokratischen Kultur und damit letztlich uns allen schadet.“ Die Demokratie sei „ein deliberativer, ergebnisoffener Prozeß“. 

Daher sei die Meinungsfreiheit für die Demokratie „schlechthin konstituierend“, sagt der Autor und verweist dabei auf eine entsprechende Feststellung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1958. Zydatiss, der in Großbritannien Psychologie, Neurowissenschaft und Statistik studiert hat, ist davon überzeugt, daß in einer Demokratie alle erwachsenen Bürger die Möglichkeit haben müssen „am Kampf um die öffentliche Meinung teilzunehmen“, um so „die Mehrheit von den eigenen Argumenten zu überzeugen“. Auf dem Papier sei diese Möglichkeit in Deutschland zwar noch gegeben, „aber durch die Cancel Culture entsteht zunehmend eine Kultur der Angst und des Konformismus, die dem demokratischen Anspruch unserer Gesellschaftsordnung zuwiderläuft“, so der Redakteur des Magazins Novo.

Die Beispiele für seine Online-Enzyklopädie der Cancel Culture, die von Mitgliedern des Freiblick­institut e.V. ehrenamtlich betreut wird, dürften dem Journalisten so schnell nicht ausgehen in Zeiten, in denen sich einflußreiche linke Meinungsmacher wie Jan Böhmermann ganz offen zur „Überzensierung“ bekennen und selbst Wiederholungen alter „Tatort“-Krimis im öffentlich-rechtlichen Fernsehen mittlerweile mit einem Warnhinweis auf „Passagen mit diskriminierender Sprache und Haltung“ versehen werden.

Foto: Die zunehmenden Löschungen gefährden die Demokratie: Schaden für alle