© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/22 / 25. Februar 2022

Vermeintliche Lehren aus Bismarcks außenpolitischer Haltung gegenüber dem Zarenreich
Gegen Rußland eisern bleiben
Hans-Christof Kraus

In der gegenwärtigen, von Rußland ausgelösten internationalen Krise um die künftige politische Stellung der Ukraine werden in Deutschland sehr unterschiedliche Standpunkte artikuliert: Die eine, die „westliche“ Position, wie man sie nennen könnte, vertritt eine entschieden rußlandkritische Haltung und plädiert dafür, russischen Erpressungsversuchen durch Drohungen und Interventionen gegen die Ukraine (und im weiteren auch gegen die Nato-Mitgliedschaft der baltischen Staaten) im Einvernehmen mit den westlichen Verbündeten nicht nachzugeben. Die Gegenposition hierzu, die man wohl als rußlandfreundlich bezeichnen kann, sieht dagegen in Rußland die vom Westen militärisch bedrohte Weltmacht und vertritt die Forderung, Deutschland solle sich nicht auf die Seite des Westens stellen, sondern zumindest eine vermittelnde Zwischenposition einnehmen. Begründet wird dies neben anderem auch mit der Behauptung, schon Bismarck habe „den Draht nach Rußland“ nicht abreißen lassen wollen, daher sei es gute Tradition deutscher Außenpolitik, stets den Ausgleich mit Rußland zu suchen.

Es lohnt sich, dieses Argument einmal näher zu betrachten. Tatsächlich bestand, darauf ist in diesem Kontext ausdrücklich hinzuweisen, während fast des gesamten 19. Jahrhunderts eine langgestreckte Landgrenze zwischen dem Königreich Preußen und ab 1871 dem Deutschen Reich auf der einen Seite, dem russischen Zarenreich auf der anderen Seite. Heute hat sich dies durch die Umbrüche von 1945 und nach 1990/91 gründlich geändert; Polen und die baltischen Staaten bilden ein Glacis zwischen beiden Ländern; Rußland ist nicht mehr direkter Nachbar des wiedervereinigten Deutschland. Vor mehr als einhundert Jahren jedoch gab es eine direkte Grenze, und schon aus diesem Grund war es geboten, nach Möglichkeit keine Konfliktpotentiale zwischen der deutschen und der russischen Seite aufkommen zu lassen und alle immer wieder einmal auftauchenden Interessenunterschiede einvernehmlich zu regeln. Diese Politik haben die meisten der damals leitenden deutschen Außenpolitiker betrieben – auch Bismarck.

Allerdings geht es nicht an, hieraus die These abzuleiten, Bismarck habe stets eine rußlandfreundliche Politik – schon gar aus vermeintlich genuiner Sympathie für den östlichen Nachbarn – vertreten. Das Gegenteil ist der Fall: Bismarck hat, seitdem er in den 1850er Jahren in die erste Reihe der preußischen Diplomaten aufgerückt war und vor allem, nachdem er 1862 die Leitung der preußischen Politik übernommen hatte, gegenüber Rußland stets eine vorsichtig abwägende, wenn nötig jedoch auch eine konsequent harte Politik betrieben, die einen vollständigen Bruch ebenso wie eine zu große Nähe stets vermieden hat. Der Grund hierfür bestand vor allem in der unberechenbaren, oft sprunghaften und in ihrer Motivation irrational anmutenden Außen- und Kriegspolitik des Zarenreiches, die immer wieder Anlaß zu der Befürchtung gab, Preußen und später Deutschland könnten in gefährliche internationale Verwicklungen hineingezogen werden.

Das zeigte sich für Bismarck zuerst während der Zeit des Krimkriegs (1853–56). Der russische Zar Nikolaus I. vertrat die Ansicht, das damals noch weit ausgedehnte Osmanische Reich – er bezeichnete es 1852 als den „kranken Mann“ am Bosporus – stünde vor dem Zusammenbruch und daher sei es an der Zeit, sich um die ansehnliche Erbschaft dieses „kranken“, ja eigentlich schon sterbenden Mannes zu verständigen. Der von Rußland unter einem Vorwand ausgelöste Krieg gegen den Sultan in Konstantinopel führte zum Eingreifen Großbritanniens und Frankreichs; gemeinsam konnte man Rußland schließlich zum Rückzug zwingen, nachdem auch Österreich unter dem massiven Druck der Westmächte der antirussischen Koalition beigetreten war. Nur Preußen war neutral geblieben, hatte allen russischen, aber auch allen westlichen Verlockungen widerstanden, in den Krieg auf der einen oder anderen Seite einzutreten. Bismarck hatte diese Strategie ausdrücklich unterstützt – jedoch keineswegs aus prorussischen Sympathien wie die damaligen preußischen Konservativen, sondern aus rationalem politischem Kalkül, denn die kleinste europäische Großmacht Preußen hätte sich eine Dauerfeindschaft des riesigen östlichen Nachbarn nach einem Krieg gegen Rußland ebensowenig leisten können wie andererseits einen Kampf gegen die vereinten Westmächte Großbritannien und Frankreich.

Die zwei Jahrzehnte zwischen dem Ende des Krimkriegs und dem nächsten Krieg Rußlands gegen die Türkei brachten die Einigung Deutschlands als Folge der drei Einigungskriege gegen Dänemark (1864), gegen Österreich und dessen Verbündete (1866) sowie gegen Frankreich (1870/71). Rußland unterstützte Preußen hierbei keineswegs, legte aber der Politik Bismarcks auch keine Hindernisse in den Weg. Der Grund hierfür ist allerdings nicht in einer genuinen russischen Sympathie für das sich einigende Deutschland zu sehen, sondern ganz einfach in der politischen Isolierung des Zarenreichs. Frankreich als dem Hauptgegner im Krimkrieg und seinem sich revolutionär gebenden Herrscher Napoleon III., dem Unruhestifter in Europa, mißtraute man in Sankt Petersburg zutiefst, Großbritannien war und blieb der Hauptrivale nicht nur im Vorderen Orient, sondern auch in Asien (wo sich damals zwischen beiden Mächten das bekannte „Great Game“ abspielte), und dem Habsburgerreich hatte man den Beitritt zum Kreis der Gegner Rußlands im Krimkrieg nicht verziehen. Blieb also nur Preußen, auf dessen Unterstützung man nicht zuletzt bei der Niederschlagung von Aufständen in Polen angewiesen war, was sich gerade erst 1863 gezeigt hatte.

Nach der Reichsgründung jedoch begann sich das Blatt zu wenden. Auf einmal erschien das neue Deutsche Reich aus russischer Perspektive als eine starke, potentiell sogar zu starke Macht, und der russische Staatskanzler Alexander Gortschakow ergriff denn auch die erste sich bietende Gelegenheit, um der Berliner Regierung genau dies klarzumachen. Obwohl er noch im Herbst 1873 zum Abschluß des Dreikaiserabkommens zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Rußland beigetragen hatte, nahm er zwei Jahre später einen Fehler Bismarcks, die Kriegsdrohung gegen Frankreich im Rahmen der „Krieg-in-Sicht-Krise“, zum Anlaß, um Rußland ohne Not ostentativ auf Seiten Frankreichs und Großbritanniens zu positionieren und gegen eine mögliche „Aggression“ des Deutschen Reiches scharf Stellung zu nehmen. Diese unfreundliche Aktion mußte Bismarck – dem hier nichts anderes übrigblieb – hinnehmen

Eine weitere, in Berlin ebenfalls als ausgesprochen unfreundlich, ja feindselig empfundene russische Aktion bestand wenige Jahre später in dem sogenannten „Ohrfeigenbrief“ des Zaren Alexander II. an seinen Onkel, den deutschen Kaiser Wilhelm I. im August 1879. Der Hintergrund war folgender: Rußland sah sich als Schutzmacht der Balkanslawen und hatte seit 1876 einen erneuten, dieses Mal erfolgreichen Krieg gegen das Osmanische Reich geführt. Der dem Sultan aufgezwungene Friedensvertrag sah jedoch die Bildung eines (mit Rußland natürlich eng verbündeten) Großbulgariens mit einem Zugang zum Mittelmeer vor. Dies alarmierte die Briten, die das Mittelmeer als ihre eigene geopolitische Einflußzone ansahen. Kurz gesagt: es drohte ein europäischer Krieg. Bismarck ergriff die Gelegenheit, sich als neutraler Vermittler, als „ehrlicher Makler“, wie er selbst sagte, zu präsentieren: Er berief den Berliner Kongreß ein, auf dem nach einmonatigen Verhandlungen im Sommer 1878 alle wesentlichen Streitfragen geregelt werden konnten. Die Briten unter Premierminister Benjamin Disraeli und Außenminister Lord Salisbury verhandelten äußerst geschickt, die Russen dagegen konnten ihre Forderungen nur in wenigen Punkten durchsetzen, weil der inzwischen senil gewordene Gortschakow und der russische Chefdiplomat Peter Schuwalow miteinander nicht kooperierten.

Der genannte „Ohrfeigenbrief“ warf ein Jahr später den Deutschen „Undankbarkeit“ vor: Während das Zarenreich die deutsche Reichseinigung unterstützt hätte, seien die Russen von Bismarck auf dem Berliner Kongreß im Stich gelassen worden. Schon vorher waren auf Befehl des Zaren russische Truppen an der deutschen Ostgrenze aufmarschiert. Bismarck wiederum hatte umgehend mit Wirtschaftssanktionen reagiert: mit einer Erhöhung der Einfuhrzölle ebenso wie mit einer – vorübergehenden – Einfuhrsperre für russisches Schlachtvieh. Und was den Berliner Kongreß anbetraf, hatte er sich gerade nicht auf die britische Seite gestellt, sondern – soweit ihm dies als offiziell neutraler Verhandlungsführer möglich war – alles getan, um dem russischen Standpunkt wenigstens angemessene Beachtung zu sichern. In Sankt Petersburg war dies jedoch nicht nur nicht anerkannt worden, sondern der Zar hatte sogar noch mit dem „Ohrfeigenbrief“ und den dort formulierten Vorwürfen zu einer massiven Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen beigetragen.

Bismarck reagierte auf diese durch nichts zu begründende, letztlich irrationale russische Politik mit dem Abschluß eines festen Bündnisses zwischen Deutschland und dem Habsburgerreich – dem Zweibund. Dieses Bündnis mußte er dem aus sentimentalen Gründen an der Chimäre einer preußisch-russischen „Freundschaft“ festhaltenden alten Kaiser regelrecht abringen. Denn natürlich bedeutete der Abschluß des Zweibundes ein starkes, nicht mißzuverstehendes Signal an Rußland: Deutschland wünsche zwar auch weiterhin friedliche Beziehungen zum Zarenreich, werde aber einen eventuellen Angriff Rußlands auf Österreich-Ungarn nicht akzeptieren. In den seit Jahren latenten Spannungen zwischen dem Zaren- und dem Habsburgerreich hatte sich Deutschland damit klar auf die österreichische Seite gestellt, was man damals nur als Niederlage der russischen Diplomatie bezeichnen konnte.

Zwar gelang es Bismarck noch einmal, mit einem erneuten, eher lockeren „Dreikaiserbund“ zu einem vorübergehenden Einvernehmen der drei östlichen Großmächte zu gelangen, doch die bulgarische Krise führte seit 1885 zum endgültigen Bruch zwischen Wien und Sankt Petersburg; der „Dreikaiserbund“ hörte auf zu bestehen. Wie schon in früheren Jahren ging es Bismarck jetzt darum, die russische Seite von einem eventuellen Krieg gegen das Habsburgerreich, den Hauptkonkurrenten auf dem Balkan, abzuhalten. Trotz des Zweibunds erklärte sich Deutschland in den österreichisch-russischen Streitfragen zwar ausdrücklich als neutral. Das allerdings reichte der russischen Seite nicht mehr; der äußerst mißtrauische neue Zar Alexander III., der 1881 als Nachfolger seines von Terroristen ermordeten Vaters auf den Thron gelangt war, schwankte in seinen politischen Einschätzungen hin und her; nicht wenige seiner außenpolitischen Berater und Teile der russischen Publizistik traten inzwischen vehement für ein russisch-französisches Zusammengehen gegen die beiden Zweibundmächte ein; auch wirtschaftlich gab es zunehmende Gegensätze zwischen Rußland und Deutschland.

Bismarck reagierte sehr differenziert: Zum einen schloß er 1887 den bekannten Rückversicherungsvertrag mit Rußland ab, dessen Hauptzweck für ihn darin bestand, den Berliner „Draht nach Sankt Petersburg“ zu halten, das heißt Rußland vor einem offenen Bündnis mit Frankreich abzuhalten; zum anderen verhängte er – auch als Reaktion gegen die frankreichfreundlichen Aktivitäten von Teilen der russischen Regierung sowie gegen die deutschfeindlichen Exzesse der russischen Presse – harte Wirtschaftssanktionen gegen das Zarenreich. Rußland war seit dem Krimkrieg hoch verschuldet, benötigte daher ausländisches Kapital; außerdem führte es in Massen landwirtschaftliche Produkte und Rohstoffe (Getreide, Schlachtvieh, Holz) nach Deutschland aus. Hier konnte Bismarck die Daumenschrauben ansetzen: Das von ihm verhängte Lombardverbot machte es für die Russen praktisch unmöglich, ihre Staatspapiere in Deutschland zu verkaufen, und die ebenfalls von der Reichsregierung verhängte massive Erhöhung der Einfuhrzölle für russische Produkte und Rohstoffe wirkte sich ebenfalls negativ auf Rußlands Exporte aus. Dem Zarenreich wurde dadurch unmißverständlich signalisiert: Deutschland möchte keine Auseinandersetzung, auch keinen Handelskrieg mit Rußland (deshalb der Rückversicherungsvertrag), aber es läßt sich auch keine Aktionen gefallen, die eindeutig gegen Deutschland und seinen Zweibundpartner, das Habsburgerreich, gerichtet sind; deshalb die Wirtschaftssanktionen.

Man kann nur darüber spekulieren, wie sich die deutsch-russischen Beziehungen entwickelt hätten, wäre Bismarck im März 1890 nicht zum Rücktritt veranlaßt worden. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte er seine zweigleisige, sich stets politische Alternativen offenhaltende Politik fortgesetzt. Blickt man aus der Perspektive von fast eineinhalb Jahrhunderten auf seine Politik zurück, dann ist es allerdings in jedem Fall unangebracht, das Bild eines angeblich uneingeschränkt rußlandfreundlichen Außenpolitikers Bismarck zu zeichnen. Der „Eiserne Kanzler“ hat stets eine konsequente Interessenpolitik betrieben, zuerst im Dienst seines Vaterlandes, des Königreichs Preußen, später des Deutschen Reichs. Wenn er Rußland gegenüber vorsichtig agierte, dann vor allem wegen der langen Staatsgrenze, die das eigene Land unmittelbar mit dem Zarenreich verband, und zum anderen wegen der damaligen internationalen Lage, ihrer äußerst komplexen, sich gegebenenfalls rasch ändernden Bündnissysteme. Zudem waren ihm, wie er einmal im Gespräch mit seinem Mitarbeiter Arthur von Brauer formulierte, „die wölfischen Instinkte der russischen Politik“ genauestens bewußt. Angesichts der oft schwankenden, manchmal genuin irrational motivierten russischen Außenpolitik blieb dem Kanzler gelegentlich nichts anderes übrig, als dem Zarenreich auch einmal die klare Kante zu zeigen. 

Unsere heutige Lage ist eine hiervon vollkommen verschiedene: Die Bundesrepublik Deutschland ist eingebunden in ein europäisch-atlantisches Bündnis- und Verteidigungssystem, das ihre äußere Sicherheit garantiert. Es bleibt der deutschen Politik – egal, welche Regierungskoalition gerade in Berlin die politische Macht innehat – daher gar nichts anderes übrig, als im Rahmen dieses Bündnissystems zu agieren und sich, was die aktuelle Lage anbetrifft, der Aggression Putins konsequent entgegenzustellen, wenn nötig auch um den Preis einer Stillegung der Gaspipeline Nordstream 2. Um es abschließend in aller Klarheit zu formulieren: Würde Bismarck unter den heutigen Bedingungen angesichts der gegenwärtigen Lage deutsche Außenpolitik betreiben – er würde gegenüber der Moskauer Regierung nicht anders handeln können und wohl auch nicht anders handeln wollen.






Prof. Dr. Hans-Christof Kraus, Jahrgang 1958, ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Geschichte an der Universität Passau. Zuvor lehrte er in Speyer und an den Universitäten Stuttgart und München. Zu seinen Schwerpunkten gehört das 19. Jahrhundert. 

Foto: Reichskanzler Otto von Bismarck beglückwünscht den russischen Bevollmächtigten Graf Peter Schuwalow auf dem Berliner Kongreß 1878, Ausschnitt aus dem gleichnamigen Gemälde von Anton von Werner: Stets bemüht, einen vollständigen Bruch ebenso wie eine zu große Nähe zu vermeiden