© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/22 / 25. Februar 2022

Globalisierung und Massenelend im Altertum
Untrügliches Zeichen innerer Auflösung: Die chronische Wohnungsnot im antiken Rom
Dirk Glaser

Viel erinnert nicht mehr an den 2016 verstorbenen FDP-Politiker und Außenminister (2009–2013) Guido Westerwelle. Allein sein den „Mißbrauch des Sozialstaats“ geißelndes Wort von der „spätrömischen Dekadenz“, das in ulkigem Kontrast steht zum Ruch des Hedonismus, der seiner „liberalen“ Spaß-Partei anhaftete, hält seinen Namen bis heute frisch.

Wenn Westerwelle Niedergang und Entartung mit den nachchristlichen Jahrhunderten des späten römischen Weltreiches assoziierte, wiederholte er damit allerdings nur ein Klischee, das der historisch gebildete Europäer seit Edward Gibbons „History of the Decline and Fall of the Roman Empire“ (1782–1788) pflegte. Tatsächlich setzten Fäulnis und Verfall wesentlich früher ein. Gehörte doch die Klage über häßliche Symptome innerer Auflösung des römischen Gemeinwesens als Folge äußerer Machtausdehnung seit Cato dem Älteren (234–149 v. Chr.) zum rhetorischen Standardrepertoire aller moralisierenden Zeitkritiker, die schließlich in Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) ihren berühmtesten tugendstolzen Repräsentanten fanden.

Selbstsucht, Bindungslosigkeit und Kosmopolitismus der Eliten Roms

Allerdings ist es diesem Philosophen, Politiker, Advokaten und vermögenden Immobilienbesitzer in keiner seiner zahlreichen Reden je eingefallen, die von ihm unermüdlich attackierte „Dekadenz“ an der Ausplünderung des Sozialstaats festzumachen. Weil es den im antiken Rom gar nicht gab. Anders als Westerwelle, der die Schuld an bundesdeutschen Zerfallsprozessen nicht den „Besserverdienern“, sondern dem angeblich überzogenen Anspruchsdenken Einkommensschwacher in die Schuhe schob, konnte sich Ciceros Kritik daher zwangsläufig auf die Habgier seiner eigenen Standesgenossen konzentrieren.

Ciceros Karriere, die ihn in höchste Staatsämter trug, um tragisch mit seiner Ermordung zu enden, vollzog sich in einer vierzigjährigen Phase des latenten, mehrfach offen ausbrechenden, Bürgerkriegs, in dem diverse Adelscliquen um die Macht im Pfründe verteilenden Senat kämpften. Ihnen hielt Cicero vor, in ihrem Luxusleben jeden Sinn für das Gemeinwohl verloren und vergessen zu haben, daß wahrer Adel nicht mit der Geburt verliehen, sondern durch Leistung im Dienst der res publica, der gemeinsamen Sache aller freien Bürger, erworben werden müsse. Statt nach, freilich kräftig verklärter, altrömischer Sitte zu leben, nach Mäßigung und Einfachheit der Lebensführung zu streben, kultivierte die von Korruption und Nepotismus zerfressene Oberschicht der Republik, die  in allen Teilen des „globalisierten“ Weltreiches mit kriminellen Methoden Vermögen erraffte, ihren Hang zu Materialismus und Müßiggang, zu enthemmter Selbstsucht, Bindungslosigkeit, Kosmopolitismus, um sich von allen Normen und Werten des „altväterischen“ römischen Bauernkriegerstaates zu verabschieden.  

Der Egoismus der Reichen und ihr mangelndes Verantwortungsgefühl für Abhängige und Arme,  bewirkte aus Ciceros Sicht die tiefe Spaltung der Gesellschaft, die jedoch, wie stets in der Geschichte, die nach Karl Marx eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, allein von den Herrschenden ausging. Gesetzmäßig bedeute die „Accumulation von Reichtum auf dem einen Pol auf dem Gegenpol Accumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, moralische Degradation“, wie Marx am Beispiel der vom Senat forcierten „Privatisierungen“ und „Deregulierungen“ öffentlicher Aufgaben zeigt,  die das Volksvermögen von unten nach oben in Hände „Superreicher“ umschichtete und parallel dazu selbständige Existenzen en masse vernichtete. 

Profitgier vieler Vermieter trieb auf breiter Front die Mietzinsen hoch

Da Cicero jedoch weit von Marx’ Einsicht entfernt war, die soziale Zerrissenheit könnte ihre materielle Ursache in ungleicher Güterverteilung haben, suchte er das Heil des Staates in der moralischen Erziehung des Führungspersonals zu gemeinschaftsfähigen Menschen. Für ihn, wie für alle idealistischen Staatsdenker von Plato bis zu Max Weber, lag darin die Lösung des Urproblems jeder Politik: Die concordia ordinum, die einträchtige Gemeinschaft freier und gleicher Bürger, beruht darauf, daß in der regierenden Schicht ein Menschentyp dominiert, der die Kraft hat, uneigennützig zu handeln. Es stehe schlecht um den Staat, wenn die Bestverdienenden sich für die Besten hielten und eine Plutokratie errichten könnten. 

In der Studie „Wohnungsnot und Wuchermieten“ des Althistorikers Andreas Klingenberg (Köln)begegnet uns Cicero jedoch weniger als Anwalt der Gemeinschaft denn als skrupelloser Egoist (Gymnasium, 128/2021). Als Hausbesitzer ließ er seine römischen Mietshäuser ungerührt verrotten, so daß nach den letzten Mietern selbst die Ratten das Weite suchten. Erst dann zog er einen Architekten für billige Instandsetzungen hinzu, die ihm um so höhere Mieten verschaffen sollten. Diese Praxis sei in Rom üblich gewesen; es wurden sogar regelmäßig Einstürze wie Brände vorsätzlich herbeigeführt, um aus dem Wiederaufbau Gewinn zu schlagen. Die Profitgier vieler Vermieter trieb auf breiter Front die Mietzinsen hoch. Die Verhältnisse verschlimmerten sich noch dadurch, daß häufig ganze Häuserblocks (insulae) an Generalpächter vergeben wurden, die ihrerseits einen Reibach machen wollten und darum als erstes die Miete kräftig erhöhten. 

Ermöglicht wurden diese für Vermieter paradiesischen, für Mieter höllischen Verhältnisse durch die seit dem frühen 2. Jahrhundert v. Chr. zunehmende Masseneinwanderung von Opfern eines „unerhörten agrarischen Kapitalismus“ (Max Weber), der die durch den Zweiten Punischen Krieg (218–201 v. Chr.) ohnehin ausgepowerten bäuerlichen Klein- und Mittelbesitzer Italiens zu Landlosen machte und in die Metropole vertrieb.  Was dort die Bauspekulation anheizte, zu Wohnungsnot und Mietwucher führte. Davon blieb die chronisch prekäre Lage der ständig um Heere von „Arbeitsmigranten“, Kriegsgefangenen und auf den Märkten des Mittelmeerraums gekauften Sklaven, erweiterten Unterschicht noch unter Kaiser Augustus und dessen, nun wirklich, „spätrömischen“ Nachfolgern bestimmt. Dabei verschlechterte sich die Situation zudem laufend, weil großzügige Bauprogramme, die Tempel, Thermen und Forumsanlagen zur Feier des Ruhms etwa von Psychopathen wie Caligula und Nero, weitläufige Areale okkupierten und sie dem privaten Wohnungsbau entzogen. Soweit wie sich dort noch „Investoren“ tummelten, rekrutierten sie sich wie zu Ciceros Zeiten aus Roms oberen Zehntausend. 

Die Ende des 20. Jahrhunderts eskalierende Globalisierung mit ihren sozialökologischen Verheerungen ist bislang nirgendwo auf nennenswerten „zivilgesellschaftlichen“ Widerstand gestoßen. Ein Phänomen, das seltsam anmutet, aber in der langen Verfallsgeschichte Roms eine Parallele hat, fügte sich doch auch die plebs urbana fast apathisch in ihr „Schicksal“. Klingenberg spricht darum von „mangelnder politischer Relevanz“ der manifesten Wohnungsmisere. Schon Robert von Pöhlmann (1852–1914), der erste Erforscher der „sozialen Frage im Altertum“, konstatierte verwundert: Trotz himmelschreiender Ungerechtigkeiten sei die Revolution, die „gewaltsame Umstülpung der Eigentumsverhältnisse“, ausgeblieben. Was, wie Klingenberg die Passivität in den Elendsvierteln erklärt, daran gelegen habe, daß die meisten Armen angesichts knappen Wohnraums schlicht froh gewesen seien, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben, stand ihnen doch als Alternative stets die Obdachlosigkeit vor Augen. Die Mieterschaft war zur Kaiserzeit jedenfalls derart zur politisch willenlosen Masse eingeschmolzen, daß ihr materielles und mentales Niveau die Klage des kulturpessimistischen Satirikers Juvenal (60–140 n. Chr.) rechtfertigte, das einst so stolze Volk der Römer wünsche sich, geduckt und vergnügungssüchtig, nur mehr zwei Dinge: Brot und Spiele.

Römische Oberschicht offenbarte nur Zynismus für die Armen

Das antike Rom, stellt Klingenberg klar, sei zwar weder als Republik noch als Monarchie ein Sozialstaat gewesen. Und die Umverteilung der Vermögen, eine Aufweichung sozialer Hierarchien oder die Einebnung des krassen ökonomischen Gefälles, jenseits staatlich organisierter Almosen wie der Getreidespenden (ein früher Vorgriff auf das „leistungslose Grundeinkommen“ für Ausgebootete der schönen neuen „Arbeitswelt 4.0“), stand nie zur Debatte. Gleichwohl verblüffe die Aufstände nicht fürchtende kaltherzige Ignoranz – Ciceros „Cynismus ohnegleichen“ (v. Pöhlmann) –, mit der die Oberschicht das Wohnungselend quittierte: „Es blieb weitgehend unbeachtet“ – ebenso wie andere soziale Übel, sei es die Ausbeutung von Arbeitskräften im Niedriglohnsektor, sei es die Verweigerung öffentlicher Gesundheitsvorsorge. Die Armen, „Freie“ wie Sklaven, zählten als Bürger einfach nicht. Ihr Status als Besitzlose, denen, soweit vorhanden, ihre karg ausgestatteten Wohnhöhlen lediglich als Nachtlager dienten, wies bereits voraus auf die von Klaus Schwab, dem „Vordenker“ der Großen Transformation, erträumte Schrumpfung des Menschen zum besitzlosen Gattungsteilnehmer, zur Minusexistenz eines flexiblen Arbeitsnomaden.  

 https://gymn.winter-verlag.de

Fotos: Thomas Couture, „Die Römer in der Verfallszeit“, Öl auf Leinwand 1847: Eine von Korruption und Nepotismus zerfressene Oberschicht; Modell des antiken Roms, Museo della Civiltà Romana: Weitläufige Areale dem privaten Wohnungsbau entzogen