© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/22 / 25. Februar 2022

Erneuerung der Staatsräson
Die in London lehrenden Politikwissenschaftler Maximilian Terhalle und Bastian Giegerich über notwendige Strategien deutscher Verteidigungspolitik
Peter Seidel

Das kleine Büchlein richtete sich an „den nächsten deutschen Kanzler“, dessen Aufgabe folgendes sein sollte: eine breite gesellschaftliche Unterstützung für ein neues Konzept zur Rolle militärischer Macht für eine modernisierte deutsche Staatsräson herbeizuführen. Dies werde, so die Autoren Bastian Giegerich und Maximilian Terhalle für das Londoner Institut für Strategische Studien (IISS), keine leichte Aufgabe. Doch sei sie innerhalb des kommenden Jahrzehnts unausweichlich notwendig, sich ihr zu stellen eine zentrale Aufgabe politischer Führung.

Das in englischer Sprache verfaßte Büchlein hat den Titel „Die (deutsche) Verantwortung zur Verteidigung. Strategische Kultur neu denken“, erschienen in der traditionellen Adelphi-Paper-Reihe des IISS (Nr. 477) noch vor der Bundestagswahl und in Unkenntnis des Wahlsiegers. Beiden Autoren geht es somit um generelle Aussagen, unabhängig von möglichen Parteienkoalitionen, im besten Sinne also um eine Blaupause zur Erneuerung deutscher Staatsräson. Das schafft einerseits den notwendigen Abstand, sorgt andererseits aber für ein Argumentieren unabhängig von Parteiprogrammen und Koalitionsvereinbarungen. Darin liegt die Stärke, aber auch die Schwäche des Papiers. Denn niemand weiß, ob etwas und wieviel von ihren Vorschlägen aufgegriffen und umgesetzt würde. Die damit verbundene Überparteilichkeit könnte aber zumindest für eine gefestigte Opposition ein realistischer Maßstab ihrer sicherheitspolitischen Arbeit sein. 

Die Autoren liefern eine Folie, von der sich altbekannte deutsche Leistungsdefizite ebenso wie jahrelanger Unwillen und Unvermögen deutscher Sicherheitspolitik klar abheben. Ihr Fazit: „Deutschland ist auf einem schlechten Weg.“ Deutschlands Sicherheitspolitik sei problematischer als die bekannten Beschaffungsprobleme, Finanzierung und Ausrichtung der Bundeswehr vermuten ließen. Es handle sich dabei um neue strategische Herausforderungen geopolitischer Art, die von den Berliner Eliten weder in ihrer Unumgänglichkeit noch ihrer Dringlichkeit gesehen würden.

Auf 150 Seiten umfaßt der schmale Band fünf Kapitel, die sich mit „den Quellen des deutschen Verhaltens“, „Deutschlands gestörter Sicherheitspolitik“, „Beschaffungspolitik, Technologie und Industrie“, mit „einer neuen strategischen Mentalität“ in Deutschland sowie mit „Elementen einer neuen Sicherheitspolitik“ beschäftigen. Die Autoren belegen dabei nachdrücklich, daß Deutschland dabei sei, seine militärischen Fähigkeiten weiterhin erodieren zu lassen, die Interoperabilität mit seinen engen Partnern sowohl in der Nato wie in der EU (soviel zum Thema „europäische Armee“!) zu verlieren und seine verteidigungstechnologische und -industrielle Basis weiter zu schwächen. 

Dies bedeutet, daß die Fortführung dieser Entwicklung, so die Autoren, zugleich die politischen Optionen und Wahlmöglichkeiten jedes zukünftigen deutschen Kanzlers ausdünnen würde. Und dies zu einem Zeitpunkt, wo Deutschland seine Sicherheit nicht mehr an die USA outsourcen könne. Von einem Nettoimporteur von Sicherheit müsse es deshalb künftig zum Nettoexporteur von Sicherheit zugunsten westlicher und vor allem europäischer Verteidigung werden. Deutschlands strategisches Ziel müsse sein, maßgeblich dazu beizutragen, daß Europa Rußland abschrecken und sich selbst verteidigen könne. Dafür müsse sich aber das Land in der Mitte Europas zur führenden europäischen Landmacht entwickeln (gemeint ist wohl in der EU!). Aber allein der Neuaufbau der Bundeswehr würde wieder an die 15 Jahre benötigen, entsprechenden Willen einmal vorausgesetzt.

Beide Experten verschweigen nicht, daß es unabhängig von jeder Koalitionszusammensetzung gravierende Hindernisse für Veränderungen gibt. Dazu zählen sie ein fehlendes strategisches Bewußtsein, gerade auch beim „intellektuellen Mainstream“, die Monopolstruktur der Deutschen Forschungsförderung (DFG) mit ihrer einseitigen Ausrichtung auf corporate governance-Philosophie (und „Friedensforschung“) sowie einen mangelnden Willen von Thinktanks und Experten, Regierungspolitik zu kritisieren, ebenso wie ein falsches oder fehlerhaftes, jedenfalls aber nicht mehr hilfreiches Verständnis der Lektionen aus der eigenen Geschichte. Nur am Rande widmen sich die Autoren Fragen der deutschen nuklearen Sicherheit, insbesondere der Frage der „nuklearen Teilhabe“ und was an ihre Stelle treten könnte. Angesichts der Größe der anstehenden Aufgaben erscheint die Konzentration auf den konventionellen Bereich und grundlegende Zukunftsfragen als kluge Beschränkung. Weniger ist eben manchmal durchaus mehr, auch wenn das nukleare Thema hierzulande sicher noch für beträchtliche Aufregung sorgen dürfte.   

Allerdings muß die Frage gestellt werden, was Vorschläge wie die von Terhalle und Giegerich überhaupt bewirken können, wenn parteiübergreifend maßgebliche Politiker von SPD und CDU wie Scholz und Schäuble sich erklärtermaßen darin einig sind, ganz auf eine nationale deutsche Armee, also die Bundeswehr, zugunsten europäischer Streitkräfte verzichten zu wollen. Dies mag die aktuelle politische Kultur sein, aber gewiß keine, die den Namen „deutsche strategische Kultur“ verdient. 

Hier sei an die alte Warnung von Sebastian Haffner erinnert: „Zu jedem guten oder schlechten Regierungssystem gehört eine besondere Kategorie von Menschen, die genau zu ihm passen und in diesem System ein prächtiges Leben führen. Solange alles normal und komplikationslos verläuft, ist dem Regime der von ihm begünstigte Typus eine Stütze. Aber es kann passieren, daß dieser Typus sich unter dem negativen Einfluß einer Abdankungspsychose selbst aufgibt und ‘sein’ System zerstört  – wie es die republikanisch gesinnten Deutschen im Fall der Weimarer Republik getan haben.“ Und dennoch: Der Versuch von Giegerich und Terhalle verdient alle Anerkennung für die zahlreichen guten und notwendigen Anregungen, Deutschland wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Möge ihr schmales Bändchen viele Leser finden – vielleicht sogar in der Berliner Politik?

Bastian Giegerich, Maximilian Terhalle: The Responsibility to Defend: Rethinking Germany‘s Strategic Culture. The International Institute for Strategic Studies, London 2021, broschiert, 150 Seiten, 21,45 Euro

Foto: Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht mit dem Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais (r.), und Brigadegeneral Christian Freuding (l.), auf dem Panzerübungsplatz Munster 2022: Deutschland ist auf einem schlechten Weg