© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/22 / 25. Februar 2022

Die Welt reduziert im Computer
Vor 50 Jahren erschien der alarmierende Bericht über „Die Grenzen des Wachstums“
Volker Kempf

Den linken Wortführern der Protestbewegungen der späten sechziger Jahre ging es um den Vietnamkrieg und „gesellschaftliche Veränderungen“. Wohlstandskinder sympathisierten mit brutalen Diktatoren wie Mao, einige gingen sogar in den Untergrund und erklärten den westlichen Demokratien den Krieg. Um Natur- und Umweltschutz ging es ihnen nicht. In Washington zeigte sich das exemplarisch: Am 1. März 1971 zündeten die Linksterroristen des „Weather Underground“ eine Bombe auf der Senatsseite des US-Kapitols.

Nicht mal einen Kilometer weiter westlich, im 1855 eingeweihten „Smithsonian Castle“, dem Zentrum der Washingtoner „Schatzkiste“ aus 17 Museen und Galerien, präsentierten am 2. März 1972 Wissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology (MIT) ihren Bericht über „Die Grenzen des Wachstums“ (The Limits to Growth/LTG). Die vom 1968 gegründeten „Club of Rome“ beauftragte und von der Volkswagenstiftung mitfinanzierte Studie versuchte mit Computermodellen die bange Frage zu beantworteten: Wie lange reichen die natürlichen Ressourcen, wenn die Weltbevölkerung immer weiter wächst?

„Es waren nicht die Revoluzzer der 68er-Bewegung, sondern der neu gegründete hoch angesehene Club of Rome aus Industrieführern, Meinungsführern und Wissenschaftlern, von dem der große Anstoß zum Umdenken ausging“, erklärte der Physiker Ernst Ulrich von Weizsäcker (SPD), erster Leiter des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie und bis 2018 Co-Präsident des Club of Rome. Die Erde lasse sich nicht „übernutzen“. Von diesen Grenzen her müsse gedacht und gehandelt werden. Die Zivilisation müsse lernen, nachhaltig zu haushalten – oder sie werde scheitern. Entscheidungen von heute haben Auswirkungen für morgen. Wenn Grenzen erst einmal überschritten sind und spürbar werden, könnte es zu spät sein.

Die Weltbevölkerung stieg von 3,8 auf heute 7,8 Milliarden an

Am ersten „Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit“ waren 17 Experten aus den Amerika, Europa, Indien, dem Iran und der Türkei beteiligt, auf dem Buchtitel der Originalausgabe standen der US-Ökonom Dennis Meadows, seine Frau Donella und der Admiralssohn William Behrens III sowie der norwegische Physiker Jørgen Randers. 1992 erschien das erste und 2004 mit zweijähriger Verspätung das „30-Year Update“ der LTG, in dem erneut zum „Kurswechsel“ aufgerufen wird. Damit stellt sich die Frage, die auch von Weizsäcker in seinem Vorwort zur deutschen Neuauflage von 2020 umtreibt: Waren die vergangenen Jahrzehnte verlorene Zeit, wurde der Kurs nicht geändert? Oder gibt es völlig neue Erkenntnisse, wie auf einem Schiff, das auf Hoher See plötzlich einen „Eisberg voraus“ sichtet?

Die Weltbevölkerung wuchs von 3,8 auf 7,8 Milliarden an – Tendenz weiter steigend. Doch mit Überraschungen der Natur ist zu rechnen – Corona oder massive Ernteausfälle sind solche Unbekannten. Die Klimaerwärmung sei hinzugekommen. Und letzteres dominiert mittlerweile das hektische Treiben an Bord der Weltgesellschaft. Der technische Umweltschutz brachte Entlastungseffekte – vom Auto-Katalysator oder der Rauchgasentschwefelung profitierten Mensch und Natur. Dafür ist die Artenvielfalt stärker bedroht – es schwinden der Regenwald, die Wildnis in Afrika, die Fischbestände in den Weltmeeren sowie Bienen und Singvögel hierzulande. Die Kohlereserven reichen für Jahrhunderte, doch ihrer Nutzung steht die CO2-Frage entgegen.

Bieten Atom-, Sonnen- und Windkraft sicheren Ersatz? Der „Peak Oil“ wurde hinausgeschoben – durch die Erschließung neuer Öl- und Erdgasreserven und durch neue Förderungstechniken. Das symbolische Ölfaß war nie halb voll oder halb leer, es glich eher einer Zitrone, die mit steigendem Aufwand immer weiter ausgepreßt werden kann. So oder so endet hier jede Kurvendiskussion irgendwann im Nichts. Was nach theoretischer Systemdynamik klingt, hat eine praktische Seite: Dazu zählen der US-Einmarsch in den Irak oder der Aufstieg Chinas, wie Randers 2012 in „2052“, seiner LTG-Prognose „für die nächsten 40 Jahre“ zeigt.

Eines haben die mehrfach revidierten „Grenzen des Wachstums“ und die apokalyptischen Berichte des 1988 gegründeten UN-Weltklimarates (IPCC) gemeinsam: Hier wie da beruhen die Prognosen auf Computersimulationen. Das dynamische Modell „World2“ des MIT-Informatikers Jay Wright Forrester (1918–2016) verknüpfte erstmals Daten zu Bevölkerung, Ernährung, Industrie, Umwelt, Ressourcen und Lebensqualität. Das erweiterte „World3“-Modell war für die Meadows und ihre 15 Kollegen – darunter die späteren Professoren Steffen Harbordt (TU Berlin), Peter Milling (Mannheim) und Erich Zahn (Stuttgart) – Grundlage der LTG-Warnungen.

Beim Klima sind die Modelle viel komplexer. Die Computer sind auch leistungsfähiger – doch kleine Variationen der Daten oder Algorithmen liefern unterschiedliche Szenarien. Wer den Menschen nicht für den Hauptverantwortlichen beim Klimawandel hält, kommt heute kaum noch zu Wort. Wer Alarm schlägt, bestimmt die Debatte. Doch die Warner haben an Glaubwürdigkeit verloren, die Apokalypse ist immer noch nicht eingetreten.

Auch von Weizsäcker ahnt das, wenn er schon dem LTG-Update von 2004 mit seinem Ruf nach Umkehr und Effizienz keine große mediale Resonanz mehr bescheinigt. Der „ökologische Fußabdruck“ – die Maßeinheit für die menschliche Belastungen auf die Umwelt – lag laut Randers vor zehn Jahren schon bei 1,4 Erden. Es gibt also keinen Grund zur Entwarnung. Daß die Frage des Bevölkerungswachstums inzwischen meist ignoriert wird, macht die Situation noch schwieriger. Denn hier liegt ein Grund dafür, daß der „Fußabdruck“ zu einem Megaproblem wurde – sprich: Immer mehr Land und Ressourcen werden für Nahrung, Kleidung, Heizung, Freizeit & Co. benötigt.

„Narren und Schwindler“ als grün-linke Trittbrettfahrer

Aber wer spricht in Zeiten der Political Correctness noch von „Bevölkerungssdruck“? Die EU soll bis 2050 mit Billionenkosten „klimaneutral“ werden – doch bis dahin steigt die Weltbevölkerung laut Uno auf 9,74 Milliarden Menschen. Mehr als das Vierfache der EU kommt also hinzu, vor allem in Afrika und islamischen Ländern. Die Bevölkerungszahl in Europa und Nordamerika – ohne Zuwanderung gerechnet – sinkt seit Jahrzehnten hingegen. Dafür ist aber der Pro-Kopf-Verbrauch an Ressourcen gestiegen – das gilt auch für China, Indien, Brasilien und andere Schwellenländer.

Es waren 68er-Vordenker wie Herbert Marcuse, die alle Probleme einfach beim Kapitalismus abluden. Sie verkannten dabei nicht nur die große Ressourcenverschwendung im Realsozialismus. Viele Linke versuchten, auf den Zug des Weltbestsellers von 1972 aufzuspringen, nicht wenige darunter waren „Narren und Schwindler“ (Roger Scruton). Organisationen wie Greenpeace sammelten, einem modernen Ablaßhandel gleich, Spenden von „Umweltsündern“. Viele haben auch einfach den Überblick verloren und reagieren panisch. Wer dennoch handeln will, reduziert die Komplexität auf Symbolpolitik: Nach „Fridays for Future“ und „Extinction Rebellion“ drangsaliert nun die selbsternannte „Letzte Generation“ mit Straßenblockaden das arbeitende Volk. Noch ist das nicht ganz so drastisch wie die teilweise ins Militante abgerutschten antikapitalistischen „Aktionen“ nach 1968. Aber auch hier gilt: Die Zukunft ist offen.

„The Limits to Growth“-Originalausgabe von 1972: donellameadows.org

Foto: Klima-Paniker: Modellrechnungen lassen sie den Untergang der Welt fürchten