© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/22 / 25. Februar 2022

Wände erzählen Geschichten
Einrichtungstrend mit Gebrauchsspuren: Wabi-Sabi setzt auf Patina und Schlichtheit
Gil Barkei

Tapetenlose Wände ohne einheitlichen Putz. Hier schimmern noch grünbläuliche DDR-Farbreste, dort kleben einige Fetzen Tapete, vielleicht aus den Dreißigern. Grau überspachtelte Fugen der Elektroleitungen führen von den einzelnen Steckdosen Richtung Decke, die zum Kontrast geweißt ist und in der Mitte über den zwei schnörkellosen schwarzen Fabriklampen sogar Stuck präsentiert. Nur eine Wand des mit abgezogenen Holzdielen ausgelegten Raumes ist mit absichtlich ungleichmäßiger Kalkfarbe in einem Erdton gestrichen. 

Auch die anderen Zimmer des kleinen märkischen Ferienhauses aus rotem Backstein aus der Kaiserzeit sehen ähnlich aus. Die einzelnen Schichten an der Wand erzählen die Geschichte des urigen Gemäuers. Die alten Holztüren zieren unpolierte Messingklinken. Die Einrichtung ist bescheiden. Ein rustikaler, patinabehafteter Holztisch. Die Kommode ist eigentlich nur eine dicke Holzplatte, an die eiserne kurze Beine geschraubt wurden, die schon etwas Rost angesetzt haben. Natürlich dürfen auch ein gußeiserner Kamin, eine Küchenhexe und der Smeg-Kühlschrank in rundlicher Retrooptik nicht fehlen.

Auch Purismus kann teuer sein

Was für viele aussieht wie eine halbfertige dürftige Herberge ist der letzte Schrei in puncto Renovierung und Inneneinrichtung. Wabi-Sabi heißt der Trend, was nichts mit rohem Fisch zu tun hat, sondern soviel bedeutet wie einsam, traurig oder allein (japanisch: „wabi“) und alt, reif oder gebraucht („sabi“). Das Imperfekte und Schlichte als ästhetisches Ideal, quasi ein Gegenmodell zu Blattgold, glänzendem Marmor und funkelndem Kristall. Purismus statt Protzen. 

Dabei hat das vermeintliche Understatement oft ebenfalls seinen stolzen Preis. Wer sich einmal die Preisliste einer deVol-Landhausküche anschaut, fällt vom handgearbeiteten Stuhl. Passende Antiquitäten oder simpel erscheinende Designer-Holzmöbel können mehrere tausend Euro kosten, ohne daß sie zwischen kombinierten günstigen Vintage-Stücken vom Flohmarkt oder vom Scheunenverkauf auffallen. Gerade nordische Ausstatter und Produkte können punkten. Auch Tiefstapeln kann in der Wohlstandsgesellschaft teuer sein und penetrant betont werden. Hier beginnt die angeblich bescheidene konsumabgewandte Konzentration aufs Wesentliche oft zu hinken. Zahlreiche Vasen, Kerzenständer oder die x-te Tagesdecke können letztlich ebenfalls wie kostspieliger Schnickschnack wirken.

In dieser auf mehr Komfort setzenden Ausprägung trifft skandinavische Hygge auf japanische Teezeremonie. Architektur- und Interieurmagazine sprechen bereits vom Wohnstil „Japandi“. Kombiniert wird das Ganze gerne mit Stoffen wie Leinen in Pastellfarben, rustikalem Töpfergeschirr, hochwertigen Accessoires und einer beispielsweise mit Blumen oder interessant geformten Ästen betonten Nähe zur Natur. Ein gewisser stereotyper Öko-Touch ist bei vielen Vorzeigebildern und -projekten daher nicht zu leugnen. Umweltschonende Energieträger, nachhaltige Ernährungsansätze aus dem eigenen Gemüseanbau sowie Naturwerkstoffe wie Hanf oder Lehm werden großgeschrieben. Marken wie Claytec oder Bauwerk Colour erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Doch auch die Masse ist längst auf den Unvollkommenheits-Zug aufgesprungen. Mittlerweile präsentiert selbst IKEA einige Möbel in Shabby-Showrooms im Rohbau-Look.

Vorreiter dieses Schicks in Deutschland sind neben Influencern wie „Krautkopf“ oder „Designtales“ insbesondere die Gutshausretter Christina Ahlefeldt-Laurvig und Knut Splett-Henning, die zu den Lieblingen der NDR-Erfolgssendung „Mit Mut, Mörtel und ohne Millionen“ gehören, von der Ende Januar die achte Folge erschienen ist. Mit ihren liebevoll eigenwillig eingerichteten Ferienwohnungen im mecklenburgischen Rensow wie der „Alten Schule“ prägen sie Kreative, die keine Lust mehr auf makellose glatte Oberflächen haben. Die Tarife sind jedoch nicht aus vergangenen Jahrhunderten: eine Nacht kostet zwischen 110 und 140 Euro. Dennoch lädt der Trend zur Nachahmung oder zumindest Inspiration ein: Es muß nicht immer die komplette neue Produktreihe aus dem (Luxus-)Möbelhaus sein.

Foto: Weniger ist mehr: Wohnen in Rohbauoptik als Kontrastangebot zu Blattgold, Marmor und Kristall