© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/22 / 25. Februar 2022

Der Flaneur
Beim Spaziergang
Bernd Rademacher

Das Wetter ist nicht gerade günstig für eine Protestdemo, die als „Spaziergang“ angekündigt ist. Aber seit Wochen schreibt die Lokalpresse Berichte darüber, die mit den Schilderungen von Bekannten, die dort waren, nicht übereinstimmen. Wer hat recht? Da hilft nichts: Wir müssen in Gummistiefel und Regenjacken, um es herauszufinden. 

Die Polizei erscheint grotesk übermöbliert im Vergleich zu den höchstens hundert Versammelten, die sich auf dem Marktplatz zusammendrängen. Doch von Minute zu Minute werden es mehr, und das Häuflein wächst zu einer beeindruckenden Menge an.

Ein Mittzwanziger trommelt unentwegt auf einen Plastikeimer – Demonstrieren kann anstregnedn sein.

Die Schar ist bunt gemischt: Viele junge Mütter, WG-Studis, Senioren der Alternativszene, Künstlertypen, Rollstuhlfahrer, Normalos. Das soll der „Aufmarsch“ sein, über den die Zeitung schrieb? Hier sieht’s eher aus wie eine Mischung aus Ostermarsch und Ökomarkt. Die Slogans auf den selbstgemalten Plakaten verraten Humor: „Piksdienstverweigerer“ lese ich und „Antiva – antivaccinistische Aktion“ und „Für Fressefreiheit!“ Der Zug setzt sich in Bewegung. Ein Bluetooth-Lautsprecher sorgt für Dauerbeschallung mit Goa-Beats, ein Mittzwanziger mit Rastafrisur trommelt dazu unentwegt auf einen Plastikeimer. Demonstrieren kann sehr anstrengend sein.

Am Straßenrand plärren schwarzvermummte Kinder ihr sinnfreies „Nazis raus!“-Mantra. Es nimmt niemand Notiz von ihnen. Die martialischen Polizisten geben sich entspannt und professionell. Einem Teilnehmer, der keine Maske trägt, weil er angeblich keine dabei hat, bieten sie sogar eine an. Er nimmt sie. Die Reden aus der Box auf dem Bollerwagen an der Spitze weht der Wind fort. Doch an vielen Fenstern und auf Balkonen der Strecke zeigen Anwohner „Daumen hoch“ oder klatschen. Sie bekommen Applaus aus dem Zug. Einige schütteln aber auch mit dem Kopf oder machen eine Wischer-Geste. „Tausendfünfhundert“, verkündet ein Ordner begeistert, „wieder mehr als letzte Woche!“ In der nächsten sind wir auf jeden Fall wieder dabei!