© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/22 / 04. März 2022

„Das kann ihn das Amt kosten“
Wladimir Putin: Was treibt ihn an? Was will er wirklich? Rußlandkenner Thomas Fasbender über dessen Krieg und seine neue Biographie des Kreml-Herrschers
Moritz Schwarz

Herr Dr. Fasbender, was plant Putin?

Thomas Fasbender: Das ist die Frage aller Fragen. Vor dem russischen Angriff am 24. Februar waren es vier Ziele: Die Ukraine darf nicht in die Nato. Die Nato darf nicht in die Ukraine. Die Ukraine darf auch kein bilaterales Militärbündnis eingehen, etwa mit den USA. Und sie muß sich verpflichten, die Krim nicht mit Gewalt zurückzuerobern.

Davon stand derzeit nichts in Frage. Warum dann der Krieg? 

Fasbender: Offenbar hat Putin die Reaktion im Westen und in Kiew auf seine Forderungen so verstanden, daß er seine Ziele nur nach einer Militäroperation durchsetzen kann. Er will Stärke zeigen und Fakten schaffen. 

Was sind also seine eigentlichen Kriegsziele?

Fasbender: Um die ganze Ukraine zu erobern, hätte er in anderer Stärke aufmarschieren müssen. Wie es aussieht, waren an der ersten Welle nicht einmal 100.000 Mann beteiligt. Putin muß erwartet haben, daß ihm ein Blitzkrieg gelingt: Zusammenbruch des Widerstands, Verhandlungsbereitschaft der Regierung. Das Ziel war wohl, in Kiew eine pro-russische Regierung einzusetzen, die sich zu ewiger Neutralität verpflichtet. Vielleicht will er auch die abtrünnigen Gebiete um Lugansk und Donezk vergrößern. Das hieße allerdings nicht notwendigerweise, sie zu annektieren. Oder er schafft ein neues „Neurußland“, das ebenfalls annektiert werden oder aber als Pufferstaat bestehen könnte. Und zwar in Variante eins: Abtrennung eines Landgürtels bis zur Krim. Oder Variante zwei: über die Krim hinaus bis hinter Odessa. Dann wäre die Rest-Ukraine nur noch ein Binnenstaat. 

Und dann, plant er Vertreibungen?

Fasbender: Das halte ich für ausgeschlossen. Insgesamt lebt die ukrainisch- und russischstämmige Bevölkerung weitgehend friedlich nebeneinander. Es gibt weder gegenseitige Verachtung noch Unterdrückung – und erst recht keinen Genozid, wie Putin behauptet. Es geht allein um geopolitischen Einfluß.

Jede Annexion oder Abtrennung verringert den russischen Bevölkerungsteil der Ukraine, wie soll sich da eine künftige pro-russische Regierung an der Macht halten? Schon jetzt stehen laut letzter Volkszählung von 2001 im Land 37,5 Millionen Ukrainer mit knapp 78 Prozent Bevölkerungsanteil, nur 8,5 Millionen Russen mit gut 17 Prozent Anteil gegenüber. 

Fasbender: In der Ukraine leben nicht Millionen „Russen“. Das sind russischstämmige Ukrainer, die sich ein Maß an sprachlicher und kultureller Selbstbestimmung wünschen, überwiegend aber kein Problem mit ihrer Staatsangehörigkeit haben. Die Bevölkerung der Ukraine fühlt sich als Ukrainer. Wie gesagt, es geht um Geopolitik: Moskau will auf keinen Fall, daß das Land zur westlichen Einflußzone wird. Es will keine Nato vor seiner Haustür. Was Rußland anstrebt, ist eine revidierte europäische Ordnung. Eine pro-russische Marionettenregierung in Kiew wäre nur eine temporäre Lösung, die demokratischen Wahlen nicht standhalten würde. Es geht wirklich darum, den europäischen Frieden in einer Weise neu zu definieren.

Was müßte der Westen also tun, um mit Putin zu einem Frieden zu kommen?

Fasbender: Der Westen riskiert einen großen Krieg, wenn er an seinen derzeitigen Vorstellungen einer Friedensordnung festhält. Man muß die russischen Interessen – die Nato nicht vor unserer Haustür – berücksichtigen. Anders kommt der Konflikt nicht aus der Welt.  

Vor wenigen Wochen erst ist Ihr Buch „Wladimir W. Putin. Eine politische Biographie“ erschienen. Wie erklären Sie den russischen Präsidenten? 

Fasbender: Putin versteht sich als „Mann des Staates“ und der Staatssicherheit. 1968 bewarb er sich mit gerade mal 16 Jahren beim KGB, was auch in der UdSSR nicht gerade üblich war. Er verehrt den Staat um seiner selbst willen, um der Macht willen, die sich in ihm verkörpert. Putins Staatsideal basiert allerdings nicht wie im Westen auf einem Gesellschaftsvertrag oder auf der Garantie von Freiheits- oder Bürgerrechten. Sein Staat ist eher der von Carl Schmitt: ein Staat, der die Gesetze, die er setzt, auch durchsetzen kann.

Putin war Mitglied der KPdSU, ist er also ein Geschöpf des Kommunismus? 

Fasbender: Nicht, was dessen soziale und ökonomische Ideologie angeht: Herrschaft der Arbeiterklasse, Abschaffung privater Produktionsmittel, Planwirtschaft etc. Die Mitgliedschaft war vielmehr seine Eintrittskarte in den Staat; anders hätte ihn der KGB nicht akzeptiert. Wenn er den Untergang der UdSSR später bedauert hat, dann nicht wegen des Kommunismus. Als seine Dresdener KGB-Kollegen Ende der achtziger Jahre meinten, man müsse in der Heimat endlich für Ordnung sorgen, hat Putin dagegengehalten, man müsse den Sozialismus abschaffen. Was Putin aber aus der UdSSR übernommen hat, ist das Ideal des starken Staats und die Fiktion einer Einparteiengesellschaft. Fiktion deshalb, weil es eine solche Gesellschaft ja nicht gibt, denn auch in einer Diktatur herrschen unterschiedliche Ansichten. Die Fiktion entspricht Putins Vorstellung vom idealen Staat, in dem Dissens nur innerhalb des Systems wirksam wird. So ist es in Rußland auch heute. Es ist kein Problem, wenn Sie gegen Putin sind. Sie können ihn auch in der Öffentlichkeit kritisieren, absolut – man darf es Ihnen nur nicht als politische Betätigung auslegen. Und das beginnt schon, wenn Sie im Internet einen Blog betreiben. Organisierte Kritik an den Mächtigen ist gefährlich. Dafür aber gibt es keine Politische Korrektheit wie bei uns. Niemand wird für irgendwelche falschen Worte zurechtgewiesen.

Will Putin die Sowjetunion wiederherstellen, wie immer wieder gemutmaßt wird? Dann wäre der Einmarsch in die Ukraine nur ein erster Schritt.

Fasbender: Nein, will er nicht. Zwar sieht er ihren Zerfall als „Katastrophe“ an, aber das gilt für das staatliche Auseinanderbrechen ihres ostslawischen Kerns. Den Verlust der alten Kolonien in Zentralasien, des Südkaukasus und des 1940 annektierten Baltikums hat Rußland akzeptiert. Putin will allerdings verhindern, daß die ehemaligen Sowjetrepubliken zu Einflußsphären fremder Mächte werden, also der USA, Chinas, der Türkei oder des Irans. Putins eigentliches Trauma ist das Auseinanderfallen der „Russkij Mir“, der „Russischen Welt“ – was besser mit „ostslawische Welt“ übersetzt wäre, also Rußland, die Ukraine und Belarus. Vor allem, daß die Ukraine zum geopolitischen Spielball geworden ist.

Dann besteht keine Gefahr für die Osteuropäer, weil es ihm als Nationalisten „nur“ um die „Sammlung der russischen Erde“ geht?

Fasbender: Putin ist eben kein Nationalist. Er steht in der imperialen Tradition, nicht in der nationalistischen. Rußland ist ein Vielvölkerstaat: Auch wenn die Russen achtzig Prozent ausmachen, leben dort einhundert Nationalitäten – darunter immer noch 0,8 Prozent Deutsche und 14 Prozent Muslime. Putin legt großen Wert darauf, daß alle friedlich miteinander auskommen. Eine Russifizierung hat er nie angestrebt. Der Staat heißt übrigens „Rußländische Föderation“, auch wenn es immer als „Russische Föderation“ übersetzt wird. Der Begriff „rußländisch“ schließt alle Nationalitäten mit ein. Egal, welche Nationalität oder Konfession, für Putin zählt zuallererst die Loyalität zum Staat.

Der Verlag wirbt, Ihr Buch sei die erste Putin-Biographie eines deutschen Autors seit zwanzig Jahren. Zeigt das nicht ein erstaunliches Desinteresse hierzulande gegenüber einer so wichtigen Figur wie Putin?

Fasbender: Vielleicht schreckt ab, daß Putin so polarisiert. Ich werde oft gefragt, warum ich in der Biographie nicht deutlicher Partei ergreife. Meine Antwort: Ich beschreibe und erkläre. Ich bin kein Richter. In Deutschland ist es wichtig, „Haltung“ zu demonstrieren. Gegen Putin oder für ihn. Das ist nicht mein Ding.

Erklärt Putins Persönlichkeit den Politiker Putin?

Fasbender: Natürlich auch. Aufgewachsen ist er auf dem Leningrader Hinterhof, die Eltern waren einfache Leute ohne jeden Nomenklatura-Hintergrund, ohne „Vitamin B“. Er hat gelernt, sich durchzubeißen, auch körperlich. Da er klein war, hat er schon mit elf oder zwölf Kampfsport betrieben. Später war er Leningrader Judomeister und ist heute noch stolz, daß er sich oft geprügelt hat – das letztemal mit Anfang Dreißig. Noch bei der KGB-Ausbildung hat ihm seine Aggressivität Probleme bereitet. Die kämpferische Mentalität spiegelt sich auch in der Wahl des Vorbilds: In den Büros der Leningrader Stadtverwaltung wurden schon 1990 die Lenin-Porträts abgehängt. Die Kollegen ersetzten sie durch Boris Jelzin – Putin dagegen hing einen Stich von Peter I. an die Wand, das war bemerkenswert. Zar Peter hat Rußland bekanntlich auf Europa ausgerichtet. Doch nicht, um Rußland europäischer zu machen, sondern um europäische Technologie und Fertigkeiten zu kopieren. Auch Putin ist ein solcher Technokrat der Macht. Wenn er Traditionen opfert oder Rußland „modernisiert“, geht es darum, daß der Staat wettbewerbsfähiger wird.

Nur ein „Technokrat der Macht“? Aber Putin vertritt doch auch weltanschauliche Inhalte.   

Fasbender: Weil er glaubt, daß es dem Staat von Nutzen ist. Den Kommunismus wollte er loswerden, weil der keine effiziente Volkswirtschaft zuließ. Den Kapitalismus hat er begrüßt, weil Rußland sonst chancenlos wäre. Putin weiß, daß es ohne private unternehmerische Initiative kein Wachstum gibt. Gleichzeitig mißtraut er aber den Unternehmern, weshalb er auch die Oligarchen strikt unter Kontrolle hält. Das nationalkonservative Weltbild tritt seit 2012 in den Vordergrund, seit seiner dritten Amtszeit. Man erkennt das am Fall „Pussy Riot“, am Anti-Homosexuellen-Gesetz und an der Stärkung der Kirche. Damals wurden auch Teile der europäischen Rechten auf Putin aufmerksam und begannen, ihn zu hofieren. Dabei sind die konservativen Werte für Putin ein Mittel zum Zweck. Das einzige Gebiet, auf dem das kalte Machtkalkül ihn zu verlassen scheint, ist die ostslawische Welt. Will er wirklich nur verhindern, daß die Ukraine an den Westen fällt? Oder erliegt er einem fast schon mythischen Traum von historischer und kultureller Einheit der „Russkij Mir“?

Stimmt die These, mehr Angst als vor Nato-Truppen in der Ukraine habe er davor, daß sich dort westliche Werte etablieren, die nach Rußland schwappen?  

Fasbender: Der Gedanke, die ganze Welt sei darauf erpicht, unsere modernen Werte zu übernehmen, erscheint mir doch recht eurozentrisch. Ich bezweifle, daß die Hyperindividualisierung, die Auflösung von Familien- und Geschlechterrollen oder die Bereitschaft zur ungezügelten Einwanderung außerhalb von Westeuropa viele Anhänger finden werden. Ganz überwiegend nimmt die nichteuropäische Welt unsere „neuen Lebensentwürfe“ als das wahr, was sie sind: Zerfallsprodukte einer sich desintegrierenden Gesellschaft.

Schuld am Krieg in der Ukraine sind die „Rußlandversteher“, die Putin ermuntert hätten, sagen die einen. Nein, schuld sind die, die Rußland eingekreist und provoziert haben, sagen die anderen. Wer hat recht? 

Fasbender: Weder noch. Die Realität ist komplexer. Rußland hadert mit der Friedensordnung, die nach dem Sieg des Westens im Kalten Krieg nach 1990 entstanden ist. Obwohl Rußland sie mitunterschrieben hat. Seither hat sich enorme Frustration angestaut. Die entschuldigt keinen Angriffskrieg, sie kann aber die Motive erklären. Denn diese Ordnung erlaubt es dem Westen, sein Militärbündnis bis unmittelbar an die russischen Grenzen heranzuschieben. Sie erlaubt dem Westen auch, die europäischen Verhältnisse nach seinem Gusto zu gestalten. Stichworte: Auflösung Jugoslawiens, Bombardierung Serbiens, Abspaltung und Unabhängigkeit des Kosovo, EU- und Nato-Osterweiterung etc. Schließlich will der Westen sogar in die Ukraine expandieren. Damit wird eine rote Linie berührt. Diese Entwicklung ist für Rußland inakzeptabel, gleichbedeutend mit Niederlage, Demütigung, Verfall.

Trifft also die Einkreisungsthese doch zu?

Fasbender: Die in Rußland so wahrgenommene Einkreisung erklärt nur einen Teil. Wichtig ist der Aufstieg Chinas: Das Land fordert die liberalen Demokratien mit einem autoritären Gesellschaftsmodell heraus. Putin hat schon um 2010 die Möglichkeiten erkannt, die Rußland da erwachsen. Die Entfremdung vom Westen ist eine Reaktion auf die Behandlung durch den Westen, aber auch auf die globalen Machtverschiebungen. Überreizt Putin das Spiel? Vielleicht erleben wir momentan genau das. Der Ukraine-Krieg kann ihm auf die Füße fallen, ihn vielleicht das Amt kosten. Etwa, wenn seine Umgebung feststellt, daß der Krieg außer hohen Kosten – Menschenleben, Wirtschaftskraft, Reputation – kaum etwas gebracht haben wird. Eines sollte man jedoch nicht vergessen: Der Antagonismus mit dem Westen, die Interessenlage in Europa, das wird auch in einem Rußland post Putin unverändert präsent sein.






Dr. Thomas Fasbender, der Unternehmer und Journalist, Jahrgang 1957, lebte 25 Jahre in Moskau. Er moderiert im Studio Berlin des russischen Senders RT die Talkshow „Fasbender im Gespräch“. Gerade erschien sein neues Buch: „Wladimir W. Putin. Eine politische Biographie“

 www.thomasfasbender.de

Foto: Präsident der Russischen Föderation und oberster Kriegsherr: „Putin ist ein Technokrat der Macht. Konservative Werte sind für ihn nur ein Mittel zum Zweck“