© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/22 / 04. März 2022

„Das ist eine Zeitenwende“
Bundestag: Berlin reagiert auf den Krieg gegen Kiew / Positionswechsel bei SPD und Grünen / AfD uneins
Florian Werner

Der Einmarsch der russischen Streitkräfte in der Ukraine hat einige Gewißheiten der deutschen Politik auf den Kopf gestellt. In weiten Teilen von Regierungsparteien und Opposition setzt ein Umdenken ein. Sowohl in der Verteidigungspolitik (siehe Seite 5) als auch in Fragen der Energiesicherheit hat mancher seine Haltung in Windeseile um 180 Grad geändert. Doch nicht allen Politikern gelingt dieser Kurswechsel reibungslos. „Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen“, betonte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Sonntag in seiner Regierungserklärung während der Sondersitzung im Bundestag. Deshalb habe sein Kabinett entschieden, doch Waffen an die Ukraine zu liefern. „Auf Putins Aggression konnte es keine andere Antwort geben“, begründete der Kanzler den plötzlichen Meinungsumschwung. In der Vergangenheit hatte sich der Sozialdemokrat lange dagegen ausgesprochen, die Ukraine mit Kriegswaffen zu versorgen.

Doch Scholz veränderte seine Position auch mit Blick auf den Rüstungsetat der Bundesregierung. „Wer Putins historisierende Abhandlungen liest, wer seine öffentliche Kriegserklärung an die Ukraine im Fernsehen gesehen hat oder wer wie ich kürzlich persönlich stundenlang mit ihm gesprochen hat, der kann keinen Zweifel mehr haben: Putin will ein russisches Imperium errichten“, bekräftigte er im Parlament. Deutschland müsse daher mehr in seine Verteidigung investieren, um in Zukunft Freiheit und Demokratie schützen zu können. Zu diesem Zwecke werde die Bundesregierung das Zwei-Prozent-Ziel der Nato künftig übererfüllen. Die SPD hatte sich davor über Jahre hinweg gegen die Erhöhung des Wehretats gestemmt. 

„Hier kann es keine zwei Meinungen geben“

Zur Überraschung vieler Mitglieder und Sympathisanten kritisierte ausgerechnet AfD-Fraktionschef Tino Chrupalla in seiner Antwort die Budget-Pläne der Bundesregierung, obwohl die Fachpolitker seiner Fraktion – genau wie das Parteiprogramm – stets eine Erhöhung des Verteidigungshaushaltes fordern. „Ebenso wichtig wie die deutsch-französische muß die deutsch-russische Freundschaft sein“, forderte Chrupalla. „Ein neues Wettrüsten lehnen wir ab.“ 

Mit einer klaren und einhelligen Positionierung zum Ukraine-Krieg tat man sich schwer. Auf der einen Seite verurteilte Verteidigungsausschußmitglied Jan Nolte nach einer Sondersitzung des Gremiums die Invasion. Rußland führe einen lehrbuchmäßigen Angriff auf die Ukraine durch. In der Vergangenheit habe man im Ausschuß und im Plenum, „gerade was die Rußland-Politik angeht“, viel gestritten. „Aber hier kann es keine zwei Meinungen geben: Rußland muß seine Truppen abziehen“, forderte er. 

Im Gegensatz dazu warnten der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland und der außenpolitische Sprecher Petr Bystron vor einseitigen Schuldzuweisungen. „Wir bedauern die aktuelle Entwicklung und die Zuspitzung der Situation in der Auseinandersetzung um die Regionen Donezk und Luhansk. Wir dürfen aber jetzt nicht den Fehler machen, Rußland allein die Verantwortung für diese Entwicklung zuzuschreiben“, teilten sie in einer gemeinsamen Erklärung mit. In einer Fraktionssitzung vor der Bundestagsdebatte war es hoch her gegangen, da der außenpolitische Arbeitskreis nicht einhellig hinter diesem Statement stand.  

Auch die Linkspartei haderte zunächst mit einer klaren Bewertung der Lage in der Ukraine. So hatte sich etwa die ehemalige Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, Sahra Wagenknecht, bis zuletzt mit Beteuerungen hervorgetan, sie könne sich einen russischen Einmarsch in der Ukraine nicht vorstellen. Der heutige Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch hatte sich daher für eine Revision des Verhältnisses der Linkspartei zu Rußland ausgesprochen. „Dieser historische Einschnitt wird auch von der Linken eine Neubewertung nötig machen“, mahnte er vergangene Woche an. 

Seine Co-Fraktionsvorsitzende Amira Mohammed-Ali gab am Sonntag bei der Aussprache im Parlament zu, ihre Partei habe sich in Rußland getäuscht. „Für meine Partei ‘Die Linke’ räume ich in aller Deutlichkeit ein, daß wir die Absichten der russischen Regierung falsch eingeschätzt haben“, betonte sie. Der außenpolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, Gregor Gysi, äußerte sich derweil schockiert über eine von Wagenknecht mitunterzeichnete Stellungnahme, die sowohl der Nato als auch Rußland eine Mitschuld an der jüngsten Gewalteskalation in der Ukraine zuwies. „Ich bin insgesamt über eure Erklärung entsetzt und wollte euch das wissen lassen“, schrieb er in einem Brief an die Politikerin. Wagenknecht reagierte darauf brüskiert und sprach von „Rufmord“.   

Auch beim deutsch-russischen Erdgas-Projekt Nord Stream 2 schwenkte die Politik um. Nachdem Kanzler Scholz vergangene Woche die Freigabe der Pipeline auf unbestimmte Zeit verschoben hatte, sprach sich die Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommerns, Manuela Schwesig (SPD), am Montag dafür aus, auch die Schließung der mit dem Projekt verbundenen Stiftung „Klima- und Umweltschutz MV“ zu prüfen. „Ich habe den Vorstand der Stiftung gebeten, die Arbeit der Stiftung ruhen zu lassen und im Rahmen der engen rechtlichen Möglichkeiten eine Auflösung der Stiftung auf den Weg zu bringen“, twitterte sie. Schwesig hatte bis zuletzt als vehemente Befürworterin des deutsch-russischen Bauvorhabens gegolten.

Darüber hinaus verlangte die sozialdemokratische Ministerpräsidentin von Altkanzler Gerhard Schröder (SPD), er müsse seine Verbindungen zu russischen Energieunternehmen auflösen. „Gerhard Schröder muß sein Engagement in russischen Energieunternehmen beenden und damit die Anstrengungen der Bundesregierung unterstützen“, forderte sie. Schröder hatte am ersten Tag der Invasion noch davor gewarnt, mit überzogenen Sanktionen auf das Verhalten Rußlands zu reagieren (siehe Seite 6). „Mit Blick auf die Zukunft gilt, daß jetzt bei notwendigen Sanktionen darauf geachtet werden wird, die verbleibenden politischen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Verbindungen zwischen Europa und Rußland nicht gänzlich zu kappen“, mahnte er. Diese seien die Basis für einen künftigen Frieden in Europa. CDU und FDP hatten die SPD jüngst dazu aufgerufen, Schröder wegen seiner Nähe zum Kreml-Chef Putin aus der Partei auszuschließen. 

„Erstmals einen Schulterschluß aller EU-Staaten erreicht“

Auch die Grünen veränderten ihre energiepolitische Positionen. So machte etwa Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck am Sonntag in der ARD deutlich, die Verlängerung der AKW-Laufzeiten zu überprüfen, um die Energiesicherheit in Deutschland sicherzustellen. Er wolle die Nutzung der Atomenergie nicht „ideologisch abwehren“, versicherte Habeck. „Es gibt keine Denktabus“, sagte er. Deutschland könne bis zum kommenden Winter ohne Gas aus Rußland auskommen. Dann müsse die Einkaufsstrategie für Energieträger allerdings deutlich ausgeweitet werden.  

Unterdessen hat sich die EU auf die Ankunft von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine vorbereitet. „Wir haben heute erstmals einen Schulterschluß aller Staaten der Europäischen Union zur gemeinsamen, schnellen und unbürokratischen Aufnahme von Kriegsflüchtlingen erreicht“, äußerte Bundesinnenministerin Nancy Faeser am Montag. 

Auch die AfD machte sich für die Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen stark. „Für die Kriegshandlungen sind nicht die Ukrainer verantwortlich. Sie erfahren Leid und Schmerz durch den Tod von Angehörigen und Freunden sowie Zerstörungen ihrer Heimat“, so Fraktionschef Chrupalla. Der sächsische AfD-Fraktionsvorsitzende Jörg Urban betonte, „im Gegensatz zu früheren Migrationsbewegungen handelt es sich bei ihnen um tatsächliche Kriegsflüchtlinge, darunter hauptsächlich Frauen und Kinder, die für einen begrenzten Zeitraum um humanitäre Hilfe bitten“. 

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