© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/22 / 04. März 2022

Unbedingt aufrüstungsbereit
Verteidigung: Der Schock nach dem russischen Angriff auf die Ukraine verhilft der Bundeswehr zu ungeahntem Geldsegen
Peter Möller

Es war ein Paukenschlag: Mit seiner Ankündigung, ein hundert Milliarden Euro umfassendes Sondervermögen für die Bundeswehr einzurichten und gleichzeitig den jährlichen Anteil der Verteidigungsausgaben auf mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am vergangenen Sonntag vor dem Bundestag die Verteidigungspolitik der vergangenen dreißig Jahre mit einem Schlag beendet.

Scholz’ dramatische Kehrtwende bei der Finanzierung der Truppe gleicht einer Flucht nach vorn. Der Angriff Rußlands auf die Ukraine hat mit einem Schlag offensichtlich gemacht, was bis dahin von den verantwortlichen Politikern immer noch hinter wortreichen Ankündigungen versteckt werden konnte: Die Bundeswehr ist nur noch bedingt einsatzbereit. Größere Operationen, zumal über einen längeren Zeitraum, überfordern die Truppe beim Material, der Versorgung und dem Personal. Und genau damit sieht sich die Bundeswehr konfrontiert, seit die Nato ihre Verteidigungspläne aktiviert hat. Damit kommt auch auf die deutsche Armee eine enorme Belastungsprobe zu, der sie in ihrem derzeitigen Zustand kaum gewachsen ist. Neben einer weiteren Verstärkung des deutschen Kontingents in Litauen muß Berlin auf Wunsch der Nato eine Flugabwehreinheit in die Slowakei entsenden. Und das dürfte erst der Anfang sein.

„Das Heer steht mehr oder weniger blank da“

Der Inspekteur des Heeres, Alfons Mais, war daher am Tag des russischen Angriffs in die Offensive gegangen: „Ich hätte in meinem 41. Dienstjahr im Frieden nicht geglaubt, noch einen Krieg erleben zu müssen. Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da. Die Optionen, die wir der Politik zur Unterstützung des Bündnisses anbieten können, sind extrem limitiert“, schrieb der General im Internet. „Wir haben es alle kommen sehen und waren nicht in der Lage, mit unseren Argumenten durchzudringen, die Folgerungen aus der Krim-Annexion zu ziehen und umzusetzen. Das fühlt sich nicht gut an! Ich bin angefressen!“ Wenn es jetzt nicht gelinge, sich neu aufzustellen, werde man den verfassungsmäßigen Auftrag und Deutschlands Bündnisverpflichtungen nicht mit Aussicht auf Erfolg umsetzen können.

Daß Mais nur das aussprach, was viele in der Bundeswehr und auch in der Politik denken, zeigte sich kurz darauf in einem bemerkenswerten Post der früheren Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) auf Twitter: „Ich bin so wütend auf uns, weil wir historisch versagt haben. Wir haben nach Georgien, Krim und Donbass nichts vorbereitet, was Putin wirklich abgeschreckt hätte“, schrieb sie in einem für Politiker eher seltenen Anflug von Selbstkritik. „Wir haben die Lehre von Schmidt und Kohl vergessen, daß Verhandlungen immer den Vorrang haben, aber man militärisch so stark sein muß, daß Nichtverhandeln für die andere Seite keine Option sein kann.“ Als ehemalige Verteidigungsministerin weiß sie nur zu genau, daß von militärischer Stärke zumindest mit Blick auf Deutschland keine Rede sein kann. Seit dem Ende des Kalten Krieges war die deutsche Armee permanent unterfinanziert. Im Zuge der zahlreichen Bundeswehrreformen und Sparrunden sind teilweise gravierende Fähigkeitslücken entstanden.

Aber auch die mangelnde Einsatzbereitschaft des noch vorhandenen Geräts macht der Bundeswehr seit Jahren zu schaffen. Häufig ist nur ein Bruchteil der Panzer, Schiffe oder Kampfflugzeuge tatsächlich einsatzbereit. Trauriger Höhepunkt: Von Oktober 2017 bis März 2018 war kein einziges der sechs deutschen U-Boote einsatzbereit. Hauptgrund für diese Misere sind meist fehlende Ersatzteile, was der Bundeswehr die wenig schmeichelhafte Bezeichnung „Ausschlacht-Armee“ einbrachte. Ursache hierfür sind Einsparungen bei der Ersatzteilbeschaffung, die 2010 sogar in einem Bestellstopp gipfelten – mit fatalen Folgen. Auch Jahre später mangelt es an den teilweise hochspezialisierten Teilen, denn manche Rüstungsunternehmen hatten die Produktion bestimmter Ersatzteile wegen fehlender Nachfrage sogar ganz eingestellt. Dieses Beispiel dient den Militärplanern als Mahnung. So wichtig es ist, daß der Bundeswehr ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden – ohne ein vernünftig strukturiertes und vorausschauendes Beschaffungssystem, das auch den Faktor Zeit mit einplant, läßt sich keine Armee mit einer hohen Einsatzbereitschaft unterhalten.

Schon wenige Stunden nach der Ankündigung von Scholz, die finanziellen Mittel der Bundeswehr deutlich zu erhöhen, kursierten erste „Wunschlisten“, welches Material von den zur Verfügung stehenden zusätzlichen Milliarden beschafft werden könnte. Einige konkrete Vorhaben hatte der Bundeskanzler in seiner Rede bereits genannt. Dazu zählt als Ersatz für den in die Jahre gekommenen Jagdbomber Tornado die Beschaffung des modernsten amerikanischen Kampfflugzeugs F-35, mit dem die „nukleare Teilhabe“ Deutschlands sichergestellt werden soll. In der Luftwaffe ist die F-35 schon lange das bevorzugte Nachfolgemodell für den Tornado, anders dagegen im Verteidigungsministerium, das lange auf den Eurofighter setzte. Im Streit darüber mußte 2018 sogar Luftwaffeninspekteur Karl Müllner gehen, nachdem er sich öffentlich für die F-35 ausgesprochen hatte.

Beim Heer ganz oben auf der Liste steht die Beschaffung 230 weiterer Puma-Schützenpanzer. Ursprünglich hatte die Bundeswehr ein erstes Los von 410 Exemplaren des Pumas bestellt, dieses dann aber aus Spargründen auf 350 reduziert. Daher sind noch immer zahlreiche Exemplare des Vorgängermodells Marder im Einsatz, der seit 1971 im Heer Dienst tut. Weitere Puma könnte das Heer daher gut gebrauchen. Auch für die Entwicklung des gemeinsam von Deutschland und Frankreich geplanten Nachfolgemodells des Kampfpanzers Leopard 2, der 2035 einsatzbereit sein soll, dürfte nun ausreichend Geld zur Verfügung stehen.

Der unverhoffte Geldsegen könnte zudem für ein unerwartetes Comeback sorgen: In der vergangenen Woche war bekannt geworden, daß die Industrie noch über 50 Flak-Panzer vom Typ Gepard verfügt, der bei der Bundeswehr 2011 dem Rotstift zum Opfer gefallen war. Die modernisierten Flak-Panzer könnten nun übergangsweise helfen, die Fähigkeitslücke bei der Flugabwehr zu schließen, bis diese Aufgabe von einem modernen Nachfolgesystem übernommen werden kann. Die Marine darf sich wiederum Hoffnungen auf zwei weitere Mehrzweckkampfschiffe vom Typ 180 machen. Der Haushaltsausschuß des Bundestags hatte 2020 das Geld für die Beschaffung von zunächst vier Einheiten freigegeben, mit der Option auf zwei zusätzliche Schiffe. 

Doch die Beschaffung von Großgerät ist nur ein Baustein bei dem Vorhaben, die Bundeswehr wieder einsatzfähig zu machen. Ebenso wichtig – und nicht minder kostspielig – sind das Auffüllen der Ersatzteillager und Munitionsdepots sowie die ausreichende Beschaffung der persönlichen Ausrüstung der Soldaten, damit Meldungen über fehlende warme Unterhosen der deutschen Truppen in Litauen künftig der Vergangenheit angehören. 

So schnell Wunschzettel und Bestellisten geschrieben sind, die Bundeswehr sieht sich seit Jahren einem Problem gegenüber, das sich mit Geld nicht lösen läßt die angespannte Personalsituation seit Aussetzung der Wehrpflicht. So meint der verteidigungspolitische Sprecher der AfD im Bundestag, Rüdiger Lucassen, die Bundesregierung könne sich „angesichts des russischen Eroberungskriegs in der Ukraine und der gänzlich veränderten Lage nicht mehr auf Freiwilligkeit und Werbekampagnen“ verlassen. Daraus folgert er: „Die allgemeine Wehrpflicht muß sofort reaktiviert werden.“ Gleiches fordern erste Stimmen in der Union. Die Diskussion zur Lösung dieses Problems hat gerade erst begonnen.





Bundeswehr an der Nato-Ostflanke

Wegen des Angriffs russischer Streitkräfte auf die Ukraine verstärkt die Nato ihre Kräfte in Ost-, Mittel- und Südosteuropa. Die Bundeswehr stellt schon länger eine Kampfgruppe der Unterstützungsmission „Enhanced Forward Presence“ (EFP, zu deutsch: Verstärkte Vornepräsenz) in Litauen. Sie besteht aus 500 Soldaten des Panzergrenadierbataillons 411 aus Viereck in Mecklenburg-Vorpommern plus dieselbe Zahl von Soldaten anderer Staaten. Vergangene Woche entsandte das Verteidigungsministerium 350 weitere Soldaten – samt sechs Panzerhaubitzen (siehe Bild). EFP ist eine „anerkannte Mission“, also eine Verwendung der Streitkräfte im In- und Ausland, die kein Mandat des Bundestags benötigt. Zusätzlich sollen eine Einheit des Flugabwehrsystems Patriot sowie eine Jägerkompanie in die Slowakei verlegt werden. Die Luftwaffe hat sechs Eurofighter auf dem rumänischen Fliegerhorst bei Konstanza am Schwarzen Meer stationiert. Die Marine beteiligt sich mit der Korvette Erfurt (Nord- und Ostsee) sowie der Fregatte Lübeck (Mittelmeer): Außerdem wurde das Flottendienstboot Alster zur elektronischen Aufklärung Richtung Königsberg entsandt. Der deutsche Beitrag zur Sicherheit und Abschreckung sei in den baltischen Staaten hochwillkommen. „Für die Präsenz ist man sehr dankbar“, berichtete der Europaabgeordnete Lars Patrick Berg der JUNGEN FREIHEIT aus seinen Gesprächen mit Politikern und Militärs vor Ort. Das Mitglied der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) war gerade mit einer Delegation des Unterausschusses für Sicherheit und Verteidigung des EU-Parlaments unterwegs im Baltikum. Die Stimmung dort faßt er wie folgt zusammen: „Besorgt – aber verteidigungsbereit.“ Auch die Panzergrenadiere aus Mecklenburg-Vorpommern, die derzeit in Litauen Dienst tun, hätten sich sehr motiviert gezeigt, schildert der Politiker. Sogar mit dem in die Jahre gekommenen Schützenpanzer Marder (siehe oben) seien sie zufrieden, weil er sich auch ohne aufwendige Elektronik als zuverlässig erweise. (vo)

Foto: Bundeswehrsoldaten verladen eine Panzerhaubitze 2000 zum Transport nach Litauen: „Der deutsche Beitrag zur Abschreckung ist im Baltikum hochwillkommen“