© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/22 / 04. März 2022

Rückkehr als globaler Spieler
Geopolitik: Putin riskiert Chinas Wohlwollen, denn der Angriff konterkariert dessen Bemühungen um die „Neue Seidenstraße“
Michael Wiesberg

Seit Beginn der russischen Militäroffensive gegen die Ukraine steht die Frage im Raum, was Rußlands Präsidenten  Wladimir Putin veranlaßt haben mag, Krieg zu führen. Beim Abwägen der Frage nämlich, ob dieser Angriffskrieg aus russischer Sicht mehr Vor- oder Nachteile bringt, ist die Antwort eindeutig: Putin steht – sieht man einmal von China ab – international zu Recht als Aggressor am Pranger und sieht sich, insbesondere seitens des Westens, mit massiven Sanktionsmaßnahmen konfrontiert. Welche Folgen das für Rußland noch zeitigen wird, ist unklar. 

Eines zeichnet sich aber jetzt schon ab: Statt Rußland treten „dank“ Putins Aggressionspolitik künftig die USA als Flüssiggaslieferant für Europa auf den Plan. Als wichtiger, wenn nicht wichtigster Gaslieferant für Deutschland und Europa hat sich Rußland vorerst aus dem Spiel genommen. Für all das muß man Putin schwerwiegende Gründe unterstellen, will man ihn nicht gleich als „irrational“ abstempeln. 

Mit Blick auf die besondere Bedeutung der Ukraine für Rußland werden häufig geopolitische Gründe ins Feld geführt. Ein Stichwortgeber in diesem Zusammenhang ist der 2017 verstorbene US-Politikberater Zbigniew Brzeziński, der der Ukraine auf dem „eurasischen Schachbrett“ eine Schlüsselrolle für Rußland zugeschrieben hat. Unter geopolitischem Aspekt, so befand Brzeziński, stellte „der Abfall der Ukraine einen zentralen Verlust dar, denn er beschnitt Rußlands geostrategische Optionen drastisch“. Wenn Rußland aber die Kontrolle über die Ukraine“ zurückgewänne, „wäre es wieder eine Imperialmacht“. 

Putin folgt mit seinem Angriffskrieg gemäß dieser Einschätzung einem machtpolitischen Kalkül, um Rußland als Großmacht auf dem eurasischen „Schachbrett“ im Spiel zu halten. Aber auch dieses Kalkül darf nicht zu einem Angriffskrieg führen, der den Charakter des Faustrechts und unabsehbare Folgen für die internationale Ordnung hat.  

Die Staaten Osteuropas sehen sich deshalb in ihren historisch begründeten Vorbehalten und Ängsten gegenüber Rußland bestätigt und werden sich voraussichtlich noch enger an den Westen und die Nato anzubinden versuchen. Hier dürfte der Vorstoß der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zusätzliche Erwartungen wecken. Sie hat sich für einen EU-Beitritt der Ukraine ausgesprochen. Putin muß also massive „Blowbacks“  annehmen, worunter der US-Politologe Chalmers Johnson unbeabsichtigte nachteilige Folgen einer politischen Maßnahme verstand. 

Für die USA wäre ein russischer Sieg der schlechteste Fall

Rückendeckung erhält Putin bei seinem Versuch­en eines geopolitischen Revirements der höchsten ukrainischen Ämter vor allem von China. Denn beide verfolgen ein gemeinsames Ziel, nämlich die Überwindung der von den USA dominierten internationalen Ordnung. Die einflußreiche US-Zeitschrift Foreign Affairs hat aber auf die Zweischneidigkeit der russisch-chinesischen Kooperation für Rußland aufmerksam gemacht. Ein ernsthafter Konflikt zwischen beiden Großmächten hinsichtlich der Vorstellungen, die Chinas Staatspräsident Xi Jinping mit Blick auf eine „sinozentrische Welt“ verfolgt, sei nicht auszuschließen. Auch wenn sich ihre Endziele nicht in Übereinstimmung bringen ließen, könnten Xi und Putin zur Erreichung ihrer Zwischenziele auf Jahre hinaus kooperieren. Aber auch das ist nicht sicher, konterkariert doch Putins Ukraine-Abenteuer Chinas Projekt einer „Neuen Seidenstraße“. 

Aus der Sicht Washingtons schafft die chinesisch-russische Interessenkonvergenz ein Zwei­frontenproblem, zum einen durch Rußland in Osteuropa, zum anderen durch China im westlichen Pazifik. Im schlimmsten Fall könnte sich China durch Rußlands Kriegspolitik ermutigt fühlen, mit einem Angriff auf Taiwan zu drohen. Für die USA käme ein russischer Sieg einem Wort-Case-Szenario gleich, der unmittelbare Auswirkungen auf ihre „Grand Strategy“ in Europa, Asien und dem Nahen Osten hätte. Die Schwerpunktverlagerung in Richtung China („Pivot to Asia“) müßte bei einem russischen Erfolg in der Ukraine zumindest teilrevidiert werden.

Der Westen mit seiner Führungsmacht USA muß sich vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen auf die Herausbildung und Verfestigung einer multipolaren Weltordnung einstellen. Die Zeiten, in denen die USA als unangefochtene „einzige Weltmacht“ international ihre Regeln durchsetzen konnten, sind vorbei. Auch das macht Putins Ukraine-Krieg deutlich.

Foto: Ukrainer werfen sich in den Dreck, um Schutz zu suchen: Machtpolitisches Kalkül