© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/22 / 04. März 2022

„Geschichte lehrt Staatsstreiche“
Krieg in der Ukraine: Gefahr geht weniger von Putins Atomwaffen als vielmehr von Haltung Chinas aus
Mathias Pellack

Herr Professor van Creveld, Putins Vormarsch in der Ukraine sieht eher stockend aus. Hat sich der russische Präsident mit der Kampfstärke der Ukrainer verschätzt? Oder fehlt den russischen Soldaten einfach die Moral, ihr „Brudervolk“ zu überfallen?

Martin van Creveld: Ich denke, an beidem entspricht ein Teil der Wahrheit.

Sie hatten uns bereits gesagt, Putins Plan ziele von vornherein darauf ab, die Ukraine als unabhängigen Staat zu beseitigen. Sehen Sie, daß er seinem Ziel näher gekommen ist?

Van Creveld: Nein, ganz im Gegenteil. Ich denke, diese Dinge funktionieren in beide Richtungen. Der ukrainische Widerstand hat dem Westen einen Grund gegeben, sich zu versammeln – etwas, das dem Abendland schon lange abhanden gekommen war. Im übrigen hat die westliche Unterstützung die Ukrainer stark ermutigt und diesem Volk das Gefühl gegeben, nicht allein zu sein. Das ist ja auch viel wert.

Sind die frühen Friedensverhandlungen in Weißrußland da nicht ein Zeichen, daß das Kalkül Selenskys, auf Zeit zu spielen, bis Putin unter westlichem Druck einknickt, aufgeht?

Van Creveld: Das ist sicherlich eine Möglichkeit. Aber wir wissen es nicht wirklich. Es ist ebenso möglich, daß der russische Präsident versucht sicherzustellen, daß niemand ihm die Schuld zuschiebt. 

Viele haben auch die Truppenkonzentration an der Grenze zur Ukraine für einen Bluff gehalten. Und lagen damit falsch …

Van Creveld: Jeder, der das dachte, wurde eines Besseren belehrt, nicht wahr? 

Der Druck der Sanktionen steigt stündlich. Der westliche Luftraum ist dicht. Rußland ist teilweise aus dem internationalen Bezahlsystem Swift raus. Der Wert des Rubel ist um ein Viertel eingebrochen. Und lange Zeit neutrale Staaten wie Schweden oder Deutschland liefern Waffen an die Ukraine. Könnte der Westen nach dem Angriff nicht geeinter dastehen als zuvor?

Van Creveld: Unterschätzen Sie jedoch die Russen nicht! Erstens können sie ihr Wirtschaftsbündnis mit China jederzeit verstärken und haben dies auch schon getan. Zweitens sind sie ein zähes Volk, das es gewohnt ist, Entbehrungen zu ertragen. Sie können auf fast alles verzichten außer auf Wodka – und selbst dessen Konsum soll in den letzten Jahren zurückgegangen sein. Meiner Meinung nach ruht die größte Hoffnung auf den Oligarchen. Sie sind im Begriff, große Teile ihres Vermögens zu verlieren. Um das zu verhindern, könnten sie sich organisieren und Putin stürzen. 

Die Oligarchen sind ein bedeutender Machtfaktor. Was wären deren Optionen?

Van Creveld: Die Geschichte – auch die russische – lehrt uns viele Beispiele für Staatsstreiche. Einige waren erfolgreich, andere nicht. Die Oligarchen sind ein zäher Haufen. Alles, was sie brauchen, sind die richtige Motivation, ein paar angeheuerte Attentäter – von denen Rußland reichlich hat – und die richtige Gelegenheit. Dann können sie einen von ihnen als Nachfolger Putins ankündigen und versprechen, „freie Wahlen“ abzuhalten usw. Die Standardkost.

Was, glauben Sie, wird Putin tun, wenn die Kosten des Krieges zu hoch werden, die eigene Bevölkerung zu murren beginnt, sich kein Sieg absehen läßt? Wird er dann die Gewaltspirale weiter eskalieren?

Van Creveld: Soweit ich das beurteilen kann, hat Putin noch einen Großteil seiner Streitkräfte in Reserve hinter der Grenze. Er könnte sie einsetzen, aber logistisch wäre das in der Tat eine große Operation. Eine, die seine eigenen Leute dazu bringen könnte zu sagen, genug ist genug.

Und die Atomwaffen?

Van Creveld: Atomwaffen werfen viele Probleme auf – und das ist noch milde ausgedrückt. Sie haben jedoch einen großen Vorteil: Wenn sie nicht eingesetzt werden, gibt es keinen Grund zur Sorge. Wenn sie eingesetzt werden, gibt es auch keinen Grund zur Sorge.

Oder wird er womöglich den Konflikt einfrieren? Weite Teile der Ukraine besetzt halten und so verhindern, daß das Land der Nato beitritt?

Van Creveld: Das bezweifle ich. Ein solches Vorgehen würde weder den Krieg für ihn gewinnen noch den Druck von außen verringern. Um nicht zu verlieren, muß er weiter siegen.

Selenskyj sagt, er ziehe auch eine Neutralität der Ukraine in Betracht, wenn es Sicherheitsgarantien gebe. Rußland hatte bereits einmal die Unverletzbarkeit der ukrainischen Grenzen zugesichert. Welche Strategie, glauben Sie, verfolgt der ukrainische Präsident damit?

Van Creveld: Ich denke, daß Selenskyjs wichtigstes Ziel, wenn er Gespräche sucht, darin besteht, sich der Unterstützung des Westens zu versichern. Zu diesem Zweck muß er sich zu einer gewissen Annäherung an Moskau bereit zeigen.

Also spielt auch Präsident Selenskyj nur den Friedenswilligen?

Van Creveld: Wenn er ein Ende des Krieges zu seinen Bedingungen erreichen kann, ist das gut und schön. Aber das kann er mit ziemlicher Sicherheit nicht, so daß alles, was bleibt, eine Übung in Propaganda und gegenseitigen Beschuldigungen ist.

Viele aufstrebende Staaten oder Großmächte wie die Volksrepublik China, Indien, Iran, Südafrika und Brasilien zeigen eine unklare oder gar wankelmütige Haltung. Nach langem Zögern konnte sich von den Genannten nur Südafrika dazu durchringen, Putins Angriff klar und deutlich zu verurteilen. Ist der Überfall nicht eine Blaupause für viele Staaten, die sich international mehr Mitspracherechte wünschen? 

Van Creveld: Indien, Iran, Südafrika, Brasilien spielen keine Rolle. Jedenfalls nicht sehr viel. Der entscheidende Faktor ist China. Wie ich schon sagte, könnte China Rußland helfen, indem es seine wirtschaftlichen Beziehungen enger knüpft, und es hat auch schon damit begonnen. Aber man könnte die Gleichung auch umdrehen: Viele haben ihre Sorge zum Ausdruck gebracht, daß China die Gelegenheit nutzen könnte, um in Taiwan einzumarschieren. Bislang ist das nicht geschehen.






Prof. Dr. Martin van Creveld, israelischer Militärhistoriker, hat die Streitkräfte verschiedener Nationen beraten und lehrte an den Universitäten in Jerusalem und Tel Aviv.