© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/22 / 04. März 2022

Der Nebel des Krieges
Konflikt in der Ukraine: Der russische Angriff verläuft stockend. Kiew berichtet von Gefangenen, Getöteten und zerstörtem Material. Doch die Quellen sind unsicher.
Marc Zoellner

Als Igor Konaschenkow am Montag vor die Presse trat, strahlte seine Miene eher Besorgnis als ehrliche Zuversicht aus: „Die russische Luftwaffe hat die Lufthoheit über die gesamte Ukraine erlangt“, erklärte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums am Montag auf einer Konferenz. Für den Kreml hätte diese Nachricht eine gewaltige Erleichterung darstellen sollen. Immerhin hatten dessen Luftstreitkräfte den Angriff auf die benachbarte Ukraine mit umfangreichen Erstschlägen begleitet, die sowohl militärische wie zivile Flughäfen als auch Kasernen, Luftabwehrstellungen und strategisch bedeutsame Infrastruktur trafen. Mehr als „1.114 Einrichtungen der ukrainischen Armee“ seien seit Kriegsbeginn vom vergangenem Donnerstag an unter Beschuß gekommen, führte Konaschenkow aus, darunter „31 Kontroll- und Kommunikationszentren, 341 Panzer und 57 Raketensysteme“.

Aus unabhängigen Quellen überprüfen lassen sich diese Angaben keinesfalls, und auch Konaschenkows Aussagen sind nur bedingt zu vertrauen. Immerhin hatte der Generalmajor schon einmal, nämlich gleich am zweiten Kriegstag, mit der Behauptung einer erfolgreichen Einnahme des ukrainischen Flughafens von Hostomel durch russische Fallschirmjäger der Realität weit vorausgegriffen. Zwar wurde der im Nordwesten der ukrainischen Hauptstadt Kiew gelegene Frachtflughafen zeitweilig tatsächlich von russischen Truppen besetzt; allerdings gelang ukrainischen Einsatzkräften dessen Rückeroberung noch in derselben Nacht. Den Streitkräften Rußlands sollte Hostomel als Brückenkopf ihres Einmarsches nach Kiew dienen. Die Niederlage im Kampf um den Flughafen, welcher Anfang dieser Woche erneut schwer umkämpft war, erschütterte die Strategie des Kremls, mit ihrem Überraschungs­angriff Kiew binnen weniger Tage einzunehmen, unerwartet heftig.

Herkunft unklar: Videos zeigen Zerstörung von Wohngebäuden

Überdies stockt der russische Vormarsch nicht mehr nur rund um Kiew, sondern auch im Süden der Ukraine. In Cherson am Schwarzen Meer scheiterten russische Streitkräfte bei der Überquerung des Dnepr; trotz gegenteiliger Vermeldung kremlnaher Nachrichtenagenturen verblieb auch die Großstadt Mariupol am Asowschen Meer bis Redaktionsschluß am Dienstag abend unter ukrainischer Kontrolle. In Ene­rhodar, rund 150 Kilometer nordöstlich Chersons am Dnepr gelegen, verhinderten lokale Paramilitärs mit der Errichtung von Reifenbarrikaden sowie dem Einsatz von Krähenfüßen einen russischen Vorstoß. In den sozialen Medien kursieren zahllose Bilder und Videos von zerstörten ukrainischen Wohngebäuden sowie von Ukrainern, die vor ausgebrannten Panzern und Militärfahrzeugen der russischen Armee posieren. Auch ihre Echtheit kann selten verifiziert werden.

Unklarheit herrscht ebenfalls über die bisherigen militärischen wie zivilen Verluste unter den Kombattanten: Allein die Flüchtlingswelle an Ukrainern wird am fünften Tag des Kriegs mit bis zu einer halben Million Menschen beziffert. Laut Kiew seien bislang über 5.300 russische Soldaten gefallen, Moskauer Angaben zufolge mehr als 470 ukrainische Soldaten gefangengenommen worden. Mit der Lieferung ausländischer Waffen dürfte diese Zahl noch einmal deutlich in die Höhe schnellen. Allein die EU hatte vergangenes Wochenende eine Auffrischung des ukrainischen Arsenals in Kostenhöhe von rund einer halben Milliarde Euro angekündigt; dazu liefern neben Deutschland unter anderem auch Schweden, Dänemark und Belgien rund 9.000 Panzerabwehrwaffen an die Ukraine. Die ehemalige Sowjetrepublik Lettland, in der etwa jeder vierte Bewohner ethnischer Russe ist und auch an Rußland grenzt, hat nun gar ein Sicherheitsgesetz geändert, das es den Bürgern erlaubt, auf ukrainischer Seite in den Kampf zu ziehen. Von einer etwaigen Strafverfolgung wird also abgesehen. Auch der Transport von Waffen aus der EU durch polnische Militärs dürfte im Kreml nicht mit Wohlwollen registriert worden sein. „Die Europäer werden nun Zeuge, daß wir nicht nur für die Ukraine kämpfen, sondern für das gesamte Europa“, lobte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj das Engagement der EU für sein Land. „Jedes Verbrechen und jeder Beschuß durch den Besatzer vereint uns nur weiter.“ Einen gegenwärtig seltenen Kontrapunkt im europäischen Chor gegen Putin setzte derweil Ungarn mit seinem Verbot Waffen für die Ukraine, durch das Land zu transportieren, während sogar das stets neutrale Binnenland Schweiz ein Zeichen setzt und den Luftraum für russische Flugzeuge sperrt, obwohl alle umliegenden Länder das bereits getan haben.

„Das linke Ufer der Ukraine und seiner Schwarzmeerregionen“

Nach dem Ausschluß mehrerer russischer Banken aus dem internationalen Swift-Verfahren brach der Rubel zu Wochenbeginn um zeitweise einen Drittel seines Wertes ein. „Bis Freitag hätten wir nie vermutet, daß Rußland von der Welt isoliert werden könne“, kommentierte die Moskauer Tageszeitung Kommersant die folgenschwere Schließung des europäischen Luftraums für russische Fluglinien. Für Mitte dieser Woche werden erste Waffenstillstandsverhandlungen zwischen russischen und ukrainischen Abgesandten erwartet. Beide Seiten errichten allerdings hohe Hürden für eine Übereinkunft. Der ukrainische Präsident Selenskyi erwartet einen kompletten Rückzug sämtlicher russischer Truppen von ukrainischem Terrain, inklusive der Krim sowie der beiden selbsternannten Volksrepubliken im Osten des Landes. Die staatliche Moskauer Nachrichtenagentur Tass zitiert derweil den russischen Oberst Nikolay Shulgin als Militärexperten, welcher „nicht nur die Befreiung des Donbass von den Kiewer Besatzungstruppen“ fordert, sondern nicht weniger als „das gesamte linke Ufer der Ukraine und seiner Schwarzmeerregionen“ mit dem Fluß Dnepr sowie den Städten „Saporischschja, Mariupol, Odessa, Otschakiw, Mykolajiw, Cherson und anderen Städten, die industrielle und militärische Betriebe besitzen, welche für die Russische Föderation unverzichtbar sind.“

Laufend aktualisierte Karte zum Konflikt in der Ukraine

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Foto: Ein Mann des Zivilschutzes steht an einer Reifenbarriere in Kiew, Ukraine, Wache: Russische Truppen versuchten, schnell die Hauptstadt einzunehmen. Die Bewohner sind angehalten, Unterschlupf zu suchen