© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/22 / 04. März 2022

„Immer im Krieg sein“
Reportage aus dem Donbass: Lauern auf den Einsatzbeginn
Luca Steinmann

Das erste, was einem auffällt, wenn man Gorlowka betritt, ist sein Grau. In dieser von den prorussischen Milizen kontrollierten Stadt 50 Kilometer nördlich von Donezk ist der Himmel grau, die Gebäude im Sowjetstil sind grau, und die Straße ist grau und mit Schlaglöchern übersät, die jede Autofahrt unendlich lang werden lassen. Die Atmosphäre ist gespenstisch. Es ist fast niemand zu sehen, und es herrscht eine eisige Stille, die nur durch das Donnern von Explosionen in der Ferne unterbrochen wird. Wie in Donezk kontrolliert die ukrainische Armee auch die angrenzenden Dörfer. Beide Seiten tauschen ständig Artilleriefeuer aus, wobei auch zivile Ziele getroffen werden. Die Einwohner von Gorlowka leben ständig in Explosionslärm und dem dazugehörigen Alarm.

„Wir leiden schon seit acht Jahren unter dieser Situation, aber seit Beginn der russischen Offensive hat der Beschuß zugenommen“, sagt Anna Staritskaya, die Vorsitzende der Gemeinde. „In der letzten Woche wurden 47 Häuser getroffen und vier Zivilisten starben. Der Beschuß der Stadt erfolgte hauptsächlich aus dem 20 Kilometer weiter westlich gelegenen Dorf Dzerginsk, dem letzten Vorposten der Kiewer Armee. „Wir hatten erwartet, daß die Russen es auf dem Landweg angreifen und in kurzer Zeit erobern würden, aber das ist bisher nicht geschehen. Wir sind also immer noch dem Feuer ausgesetzt“, schließt Stariskaya.

Niemand versteht, warum noch kein Angriffsbefehl erteilt wurde

Trotz der Aggression hat der Kreml seinen Truppen nicht befohlen, an dieser Front eine Bodenoffensive zu starten, wie es in der Nähe der wichtigsten städtischen Zentren wie Kiew, Charkiw und Mariupol geschieht. In diesem Teil des Donbass rücken die Russen nicht vor, und die Ukrainer halten ihre Positionen. Das Bombardement zwischen den beiden Fronten wird jedoch immer intensiver, ohne daß jemand versucht, vorzurücken. Die Gemeinde Gorlowka hat daher 300 Bunker errichtet, in die sich die Bürger im Falle eines Angriffs flüchten können. Der letzte fand in der Nacht von Sonntag auf Montag statt, als beide Seiten sich gegenseitig mit Raketensalven beschossen, von denen einige auf das Zentrum niedergingen. Zu den betroffenen Häusern gehörte auch das von Svitlana, einer Frau mittleren Alters.

Eine Mörsergranate durchschlug das Dach. Dieses zerbarst vollständig und fiel dann auf das Schlafzimmer. „Zum Glück habe ich im Wohnzimmer geschlafen“, sagt Svitlana unter Tränen, „ich wußte, daß mein Zimmer dem Feuer ausgesetzt war, und als ich den Beschuß hörte, bin ich umgezogen. Wenn ich das nicht getan hätte, wäre ich jetzt tot. Sie sieht keine Hoffnung für die Zukunft. „Ich wurde allein gelassen, mein Mann fuhr nach Dnipropetrowsk in der Ukraine, um sich gegen das Coronavirus behandeln zu lassen. Als der Krieg ausbrach, saß er dort fest. Die meisten meiner Nachbarn sind weggelaufen. Alles, was ich noch hatte, war dieses Haus. Ich habe keine Hoffnung für die Zukunft. Ich glaube nicht, daß der Frieden jemals kommt, und ich glaube nicht an die Russen, die sagen, daß sie ihn uns bringen wollen. Wir werden immer im Krieg sein.“

Separatistische Milizen patrouillieren in den Straßen von Gorlowka; Meist junge Männer in Militäruniformen mit Kalaschkikows in der Hand, ein weißes Band als Erkennungszeichen an Arm oder Bein gebunden. Sie gehen durch die Stadt und inspizieren die Orte, die in der Nacht zuvor bombardiert wurden. Keiner von ihnen kann erklären, warum sie keine Angriffsbefehle erhalten. „Sie haben uns in aller Eile mobilisiert und uns gesagt, wir sollen uns für den Kampf bereithalten. Von einem Moment auf den anderen hieß es dann plötzlich, daß wir stehenbleiben müssen“, sagt einer von ihnen, der 22 Jahre alt ist.

Die einzige nennenswerte Bewegung von Menschen findet vor dem Rathaus statt. Hier wurde ein kleiner Park mit einem Metallzaun umgeben und in ein Ausbildungszentrum der Miliz umgewandelt. Ein paar hundert junge Männer in Militäruniformen und grünen Helmen rücken in Zweiergruppen vor, in der Hand Gewehre und Panzerfäuste. Unter dem Befehl ihrer Ausbilder simulieren sie einen Kampf und feuern ihre ungeladenen Waffen ab. Die Stille der Stadt wird durch ihre Schreie durchbrochen. Um sie herum blicken einige der Menschen, die gehen, traurig auf sie. Meistens sind es Mütter, Ehefrauen und Freundinnen, die, wenn sie können, ihren Männern ein paar Pakete über das Netz zukommen lassen. In der Regel hausgemachte Lebensmittel oder Kleidung.

Das am stärksten von den Granaten betroffene Gebiet ist Nikitovka. Es handelt sich um einen Vorort, der auf einem Hügel liegt und die umliegenden Ebenen überblickt und nur wenige Kilometer von der Frontlinie entfernt ist. Auch hier sind in den letzten Tagen mehrere Mörsergeschosse niedergegangen. 

Vor allem aber ist dieses Viertel zum Vorposten der prorussischen Artillerieangriffe auf den Feind – die Ukrainer – geworden. Am späten Nachmittag ist auf den Straßen absolut niemand zu sehen, doch irgendwo versteckt sind Soldaten, die Raketen abfeuern. Selbst wenn sie nicht auftauchen, ist das Geräusch der Schüsse ununterbrochen und ohrenbetäubend und läßt die Erde erbeben. Der Tag neigt sich dem Ende zu, und eine weitere Nacht der Bombardierung steht bevor. Ohne daß die Front sich nur einen Meter bewegt. 

Foto: Menschen suchen Schutz vor dem ukrainischen Beschuß in Gebäuden Gorlowkas: Die Frontstadt liegt in der selbsterklärten Volksrepublik Donezk unweit der ukrainischen Truppen; Prorussischer Söldner vor einem russischen Panzer auf der Hauptstraße zwischen Donezk und Mariupol: Warten auf den Befehl zum Losschlagen