© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/22 / 04. März 2022

Milliarden stehen im Feuer
Exportwirtschaft: Deutsche Firmen geraten in Existenznot / Russen müssen sich von „Made in Germany“ verabschieden
Paul Leonhard

Deutsche Firmen gehörten bisher zu den aktivsten ausländischen Investoren in Rußland, nicht nur weil der Binnenmarkt der Eurasischen Wirtschaftsunion (plus Armenien, Kasachstan, Kirgisien und Weißrußland) mit 185 Millionen Konsumenten, bei denen „Made in Germany“ hohes Ansehen genießt und hohe Gewinnmargen verspricht. Die Außenhandelsgeschäfte waren zudem über Hermesbürgschaften der Bundesregierung abgesichert. Letzteres wurde nun ausgesetzt. Unternehmer, die in Putins Reich investieren, tun das künftig auf eigenes Risiko.

Exporteure mußten bislang im Schadensfall lediglich fünf bis 15 Prozent abschreiben. Eingeschlossen waren dabei kriegerische Ereignisse oder willkürliche staatliche Beschlagnahmungen. Im ersten Halbjahr 2021 betrugen die Deckungszusagen für Warenlieferungen nach Rußland etwa 820 Millionen Euro. Rußland war bisher „wegen der Konsumfreude der Bevölkerung ein lukrativer Markt für unsere Unternehmen geblieben, auch wenn die schwache Konjunktur und die Corona-Krise die Entwicklung bremsen“, erklärte Matthias Schepp, Chef der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer (AHK) gegenüber der ARD-„Tagesschau“. Großkonzerne und Mittelständler hätten strategisch und langfristig in Rußland investiert.

Voriges Jahr stiegen die deutschen Exporte um 15,5 Prozent auf 26,6 Milliarden Euro. Die Höhe der Direktinvestitionen wird auf rund 25 Milliarden Euro geschätzt. Gleichzeitig sank jedoch die Zahl der im Land selbst engagierenten deutschen Firmen von 6.300 (2011) um 42 Prozent. 2021 betrug der Rückgang acht Prozent. Zu Jahresanfang waren es noch 3.651 Firmen mit etwa 277.000 Mitarbeitern. So produziert VW mit 4.000 Beschäftigten in dem südwestlich von Moskau gelegenen Kaluga sowie in Nischni Nowgorod den Tiguan und den Polo sowie den Škoda Rapid. Der Jahresausstoß liegt bei rund 170.300 Fahrzeugen.

Der Landmaschinenhersteller Claas montiert seit 2005 in Krasnodar mit mehr als 700 Beschäftigten jährlich rund 1.000 Mähdrescher und Großtraktoren. Daimler Truck stellte seine Produktion zusammen mit dem russischen Lkw-Produzenten Kamaz hingegen in dieser Woche ein: Der Bau von Fahrzeugen die „Dual Use“-fähig sind, sei angesichts der Sanktionen nicht mehr zulässig. Auch Daimlers Kamaz-Anteile sollen verkauft werden. Für die Milchproduktmarke Hochland ist Rußland der mit Abstand bedeutendste Markt außerhalb Deutschlands. Hier wird ein Viertel ihres Umsatzes erzielt. Der Großhändler Metro setzte voriges Geschäftsjahr mit seinen 93 russischen Märkten rund 2,4 Milliarden Euro um.

Besonders kritisch dürfte es für die auf dem Energiemarkt tätigen Unternehmen wie etwa Uniper werden. Die deutsch-finnische Firma betreibt mit mehr als 4.000 Mitarbeitern Kraftwerke. Zudem ist man – wie Wintershall Dea – an der gestoppten Erdgasleitung Nord Stream 2 beteiligt. Über eine Verlagerung eines Teils der Softwareentwicklung von Sankt Petersburg nach Indien oder Osteuropa denkt die Deutsche Telekom nach. Alle Firmen eint die Ungewißheit, auf welchem Weg sie künftig ihre Mitarbeiter im vom internationalen Zahlungsverkehr ausgeschlossenen Rußland entlohnen sollen.

Zwar scheint ein Wegfall des riesigen Absatzmarktes mit Blick auf die Statistik vernachlässigbar – nur 1,9 Prozent der deutschen Exporte gingen laut DIHK nach Rußland –, aber es steht immerhin auf Platz 14 der wichtigsten Zielländer für deutsche Ausfuhren. Das entspricht etwa dem Niveau der Türkei. Begehrt sind vor allem deutsche Maschinen (5,8 Milliarden Euro), chemische Erzeugnisse und Fahrzeuge. Aber auch ohne Krieg und Sanktionen hätte sich wohl die Situation verschlechtert: Ausländische Manager und Ingenieure wurden wie in den USA zur Abnahme von Fingerabdrücken verdammt. Weitere Schikanen wurden als deutlicher Fingerzeig wahrgenommen, daß sie Rußland nicht mehr willkommen sind.

Die AHK befürchtet nun eine Massenabwanderung deutscher Firmen. „2022 werden noch mehr Firmen die Koffer packen, wenn nicht bald Lösungen gefunden werden, die das Geschäftsklima stabilisieren“, prognostizierte Schepp schon eine Woche vor Kriegsbeginn. Mit dem nun beschlossenen Ausschluß aus dem Zahlungssystem Swift werden Geschäftsbeziehungen fast unmöglich, weil die Russen ihre empfangene Ware nicht mehr bezahlen können. Dieser Exporteinbruch wird kurzfristig gravierende Auswirkungen für russische Kunden haben, aber langfristig zu einer kompletten Neuorientierung des russischen Marktes in Richtung Asien und insbesondere China führen. Von Waren mit dem Gütesiegel „Made in Germany“ werden künftige Generationen dann nur noch ihre Großeltern erzählen hören.

Ost-Ausschuß der Deutschen Wirtschaft:  www.ost-ausschuss.de