© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/22 / 04. März 2022

Unversöhnlich
Krieg in der Ukraine: Auch in Deutschland zeigen sich die tiefen Gräben zwischen Russen und Ukrainern
Martina Meckelein

Die Sonne ist untergegangen. Die Kälte schneidet ins Gesicht. Der schwarze Himmel wölbt sich über dem Pariser Platz. Es ist still wie in einer Kirche. Plötzlich brandet ein Klatschen auf. Das Brandenburger Tor erstrahlt in Blau und Gelb – den Nationalfarben der Ukraine. Blau-gelb sind auch die Flaggen, die viele Demonstranten schwenken. Am Donnerstag, dem 24. Februar, versammelten sich rund 1.500 Menschen im Herzen Berlins. Junge und alte, mehr Frauen als Männer. Denn sie haben Angst, Todesangst um ihre Liebsten daheim. In der Ukraine fallen Bomben. Es ist womöglich nur noch eine Frage von Stunden oder Tagen, bis Kiew, Odessa oder Lemberg fallen.

„Hier, schauen Sie“, sagt Danyana Tsomenko und zeigt ihr Handy. „Das ist nicht irgendein von Telegram runtergeladener Film, das ist mein Cousin in Petersburg. Er wurde heute vormittag festgenommen.“ Auf dem Video sieht man einen jungen Mann, der ein Schild hochhält, auf dem steht: „Ich fordere, mit dem Krieg aufzuhören.“ Neben der jungen Frau steht aufgelöst ihre Mutter, Tatjana Thiele. „Die Situation in der Ukraine ist schlimm, Putin ist ein Biest“, sagt sie und zieht sich die ukrainische Flagge enger um die Schultern. „Das Schlimme ist, daß er Zugang zu Atomwaffen hat. Ich sehe eine Kriegsgefahr für ganz Europa. Putin wird ins Baltikum einmarschieren.“

Dort auf dem Pariser Platz hat fast jeder ein Handy, und auch fast jeder schaut immer wieder rein, wenn er nicht gerade ein kurzes Video filmt, um es als hoffnungsvollen Gruß in die Heimat zu schicken: Wir denken an Euch. Das Handy ist auch die Nachrichtenzentrale. Wo stehen die Truppen? „Kiew ist umzingelt, Putin plant, die gesamte Ukraine von außen nach innen zu attackieren“, sagt Tatjana Thiele. Ihre Familie wohnt in Kiew in einem Hochhaus im zehnten Stock. „Meine Mutter will da raus. Solch ein exponiertes Haus ist gefährdet durch die Luftangriffe.“

Ukrainer fordern: Putin soll in Den Haag vor Gericht gestellt werden

Ein paar Meter weiter steht ein junger Mann, Anfang dreißig in Daunenjacke und mit schwarzer Mütze auf dem Kopf, auch er hat eine Ukrainefahne um die Schultern gelegt. Er spricht ein hervorragendes Englisch. „Ich habe nicht in Betracht gezogen, daß es heutzutage, wo es genug Essen und Trinken gibt, zu einem Krieg wie im Mittelalter kommt.“ Ist es die eisige Kälte und der scharfe Wind oder das ungewisse Schicksal seines Landes? Die Augen des Mannes scheinen zu schwimmen, äußerlich bleibt er ganz ruhig. „Meine Familie ist in der Ukraine. Mein Bruder ist Soldat. Freunde von mir melden sich gerade zum Militär und werden kämpfen, sobald sie ihre Familien evakuiert haben.“

Er verstehe, daß Europa und Nordamerika nicht kämpfen wollen. „Mit Waffen kämpft die Ukraine, Europa aber kann mit Sanktionen kämpfen. Sie müssen die Wirtschaft angreifen! Putin hat mentale Probleme, er ist nicht zivilisiert. Ein Freund von mir guckt russisches Fernsehen, da wird kein Wort über den Krieg verloren! Alles sei in Ordnung, nur ein Militäreinsatz. Währenddessen hat die russische Armee einen Flughafen 15 Kilometer von Kiew entfernt erobert, das ist ein Desaster!“ Julia Shpiler stammt aus einem ukrainischen Dorf in der Nähe von Kiew: „Es ist von Panzern umzingelt. Meine Tante schrieb mir, daß sie, als sie einkaufen wollte, Schüsse gehört habe. Die Banken sind geschlossen, genauso wie die Lebensmittelmärkte. Das Nachbardorf ist total zerstört, alle Bewohner seien tot. Die Menschen, die nicht mehr in die Bunker flüchten können oder wo es gar keine Bunker gibt, die haben jetzt Todesangst.“

Oksana Seumenicht ist Physikerin, stammt aus Kiew, lebt mit ihrer Familie in Berlin. Sie sorgt sich um ihre Tante. Die konnte zwar aus Kiew flüchten und sei in einem Dorf untergekommen. „Aber wir haben Kriegsrecht, da gibt es für niemanden Sicherheit.“ Sie sieht in diesem Krieg keine regionale Auseinandersetzung. „Deshalb halte ich auch eine Sperrung des Luftraums für konsequent und richtig. Das ist nicht nur für die Ukraine, sondern für ganz Europa eine Sicherheitsfrage.“ Doch die Mutter zweier Töchter kritisiert auch die deutsche Bundesregierung: „Allerdings hätte ich mir schnellere Entscheidungen gewünscht.“

Auf dem Pariser Platz trägt Julia Shpiler ein Plakat. In englischer Sprache ist zu lesen: „Es liegt in den Händen eines jeden Russen, die Invasion der Ukraine zu stoppen. Helft uns! Steht uns bei!“ Im Grunde tun genau das zwei junge Frauen, die am Rande der Demo stehen. Sie tragen Schilder mit der Aufschrift „Wir sind Russen, wir wollen keinen Krieg“. Ein Interview lehnen sie sehr höflich, aber bestimmt ab.

Nur einige hundert Meter entfernt vom Pariser Platz, an der Straße Unter den Linden, prunkt ein Monumentalbau aus der späten Stalin-Ära. Der Sitz der russischen Botschaft. Sie ist weiträumig mit Hamburger Gitter abgesperrt. Doch die breite Fußgängerallee zwischen den Fahrspuren ist frei begehbar. Hier haben sich Demonstranten eingefunden. Aus einem Lautsprecher klingt der John-Lennon-Klassiker „Give Peace a Chance“. Auf dem Gebäude weht die russische Flagge, hinter den riesigen Fenstern leuchtet es schummerig. Sah Ähnliches Erich Weinert, als er systemkonform schrieb: „Die Stadt hat alle Augen zugemacht. Und nur im Kreml drüben ist noch Licht“? Davon, daß das Land ruhig schläft, kann keine Rede sein. Und davon, daß auch Putin, ein paar tausend Kilometer entfernt, noch wacht, ist auszugehen. Was ihm die Zukunft bringen möge, hat Jewgenij Gamal auf sein Plakat gemalt: „Putin und alle Verantwortlichen! Den Haag wartet auf Euch.“

Der Jurist steht an einer Parkbank direkt gegenüber der Botschaft gegenüber und hält seit vier Stunden in der Kälte durch. „Die Ukraine hat keine Chance. Die russischen Truppen stehen 20 Kilometer vor Kiew. Alle versuchen da rauszukommen. Jetzt haben wir gehört, daß die Ukraine nur Frauen und Kinder über die Grenze läßt, die Männer müssen kämpfen.“ Was für eine andere Welt. 2015 türmten die Männer aus Syrien und ließen ihre Frauen und Kinder zurück. Jewgenij Gamal ist Vater zweier kleiner Kinder. Seine Frau ist Russin. Sie möchte nichts sagen. Auch am nächsten Tag, dem zweiten Tag des Krieges, in der russisch orthodoxen Kirche am Hohenzollerndamm, möchten weder der Geistliche noch die Gläubigen ein Interview geben. Eine Gemeindehelferin sagt leise: „In keiner Kirche wird Ihnen jemand ein Interview geben.“ 

Das Massaker mit 48 Toten in Odessa von 2014 ist unvergessen

Eine Russin spricht dann doch. Die Frau möchte anonym bleiben, wohnt in Brandenburg. Und ihre Geschichte hört sich ähnlich an, aber mit vertauschten Rollen: „Ich bin im Gebiet von Rostow geboren, mein Vater war Ukrainer“, stellt sie sich vor. „Dort sind gerade 100.000 Frauen und Kinder aus Donezk.“ 

Ihre Männer seien dort geblieben, um ihre Heimat zu schützen. „Acht Jahre lang geht der Krieg schon und an die 13.000 Leute sind gestorben“, sagt die Frau. „Seit acht Jahren bomben dort die ukrainischen Nazis. Seitdem versucht Donezk einen diplomatischen Frieden herbeizuführen.“ In Donezk und Luhansk gebe es nur Russen, allerdings verbiete die ukrainische Regierung ihnen die Muttersprache. Noch schlimmer, empört sie sich: „Sie haben sogar eine Hauptstraße nach Stepan Bandera benannt. Der hat Tausende Menschen im Zweiten Weltkrieg getötet. Natürlich möchte Donezk nicht bei der Ukraine bleiben.“ Gerade der Verweis auf den auf Hitlers Seite gegen Stalin kämpfenden ukrainischen Nationalisten Bandera würde als besonders infame Provokation gedeutet. Der Aggressor ist ihres Erachtens nach die Ukraine, die täglich Donezk bombardiere. „Ich bin Frau und Mutter, ich bin gegen Krieg. Aber was kann Rußland in dieser Situation machen, wenn Russen sterben und Hilfe von Rußland erbeten?“ Der Kriegsgrund seien Amerikas Wünsche nach Militärbasen. Putin wolle das selbstverständlich nicht.

„Zum Beispiel Odessa. Dort wurden 40 Russen lebendig verbrannt, eine Frau unter ihnen war sogar schwanger. Es waren friedliche Proteste gegen die heutige Regierung der Ukraine. Die Menschen wollten ihre Sprache sprechen und russisch bleiben. Sie wurden getötet.“ Damit spielt sie auf die Ereignisse des 2. Mai 2014 an. Bei Kämpfen zwischen Ukrainern und prorussischen Demonstranten wurden 48 Menschen getötet und 250 verletzt. Die Ermittlungen zu diesem grauenvollen Massaker sind mehr als dürftig. „Auch heute werden alte Menschen von Nazis geschlagen. Hat das jemand in den Zeitungen erwähnt? Nein. Seitdem die sogenannte Demokratie in der Ukraine herrscht, gibt es dort keine Arbeit, kein Geld, nur Krieg und unglückliche Gesichter. Amerika will ein schwaches Europa und ein schwaches Rußland. Das machen die seit langem. Die Deutschen sollten nicht nach Amerikas Pfeife tanzen. Deutschland ist ein starkes Land, das paßt Amerika nicht.“

Fotos: Friedensdemonstration in Berlin: Am vergangenen Samstag gehen Hunterttausende gegen den Krieg in der Ukraine auf die Straße; Demonstranten vor dem russischen Ehrenmal mit T-34- Panzer: Zwischen Putin-Hass und „Ruhm für die Ukraine“