© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/22 / 04. März 2022

Vom Feind zum Verbrecher
Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine lohnt es sich, wieder einmal aufmerksam die Schriften des Staatsrechtlers Carl Schmitt zu lesen
Alain de Benoist

Die Entscheidung Wladimir Putins, seine Truppen in die Ukraine einmarschieren zu lassen und das ukrainische Militärpotential zu zerstören, ist ein Ereignis von historischer Tragweite. Vor allem aber ist es ein Schock für Europa, das seit siebzig Jahren mehr oder weniger in dem post-kantischen Traum vom „ewigen Frieden“ auf seinem eigenen Territorium gelebt hatte. Zwar hat es bereits den Krieg im ehemaligen Jugoslawien und die Nato-Bombenangriffe auf Serbien gegeben, aber mit der ukrainischen Angelegenheit nehmen die Dinge eine ganz andere Dimension an.

Die Europäer, die nicht darauf vorbereitet waren, entdecken nun, daß die Geschichte tragisch ist und daß diese Tragödie den Krieg als eine stets gegenwärtige Möglichkeit beinhaltet. Krieg entsteht aus der Divergenz von Interessen und Werten, die, wenn sie bis zu einem bestimmten Grad der Intensität getrieben wird, zu einer militärischen Konfrontation führt. Aus diesem Grund wird der Krieg nie verschwinden – ebensowenig wie die Politik, mit der er untrennbar verbunden ist.

Der preußische General und Militärtheoretiker Carl von Clausewitz sagte in einer berühmten Formulierung, daß Krieg nichts anderes sei als Politik, die mit anderen Mitteln betrieben wird. Der Staats- und Völkerrechtler Carl Schmitt (1888–1985) kehrte diese Formel in seiner 1932 erschienenen Schrift „Der Begriff des Politischen“ gewissermaßen um, indem er darauf hinwies, daß das Politische von Natur aus eine polemische Aufladung mit sich bringt: Das Wesen des Politischen liegt nämlich seiner Meinung nach nicht so sehr in der Tatsache der Feindschaft, sondern in der Möglichkeit einer Unterscheidung oder Diskriminierung zwischen dem (öffentlichen) Freund und dem (öffentlichen) Feind – nicht im Kampf, sondern in der Möglichkeit eines Kampfes.

Mit anderen Worten: Das Politische impliziert Konflikthaftigkeit. Indem Schmitt argumentiert, daß das Politische selbst in Friedenszeiten eine Konfliktdimension besitzt, nimmt er eine Position ein, die der von Clausewitz nahekommt, sie aber tendenziell ergänzt und übersteigt. Clausewitz sieht das Politische im Krieg, Schmitt das Konfliktträchtige in der Politik.

Schmitt legt gleichzeitig ein politisches Konzept der Feindschaft zugrunde. Der Feind muß seiner Meinung nach politisch betrachtet werden: Er muß ein politischer Feind bleiben, das heißt ein Gegner, den man zwar bekämpft, mit dem man aber eines Tages Frieden schließen kann. Vom Standpunkt des ius publicum europaeum, des europäischen öffentliches Rechts aus bleibt der Frieden eindeutig das Ziel des Krieges: Jeder Krieg wird natürlich mit einem Friedensvertrag beendet. Und da man nur mit dem Feind Frieden schließen kann, setzt dies voraus, daß die Kriegführenden sich gegenseitig anerkennen. Eine solche Anerkennung ist die eigentliche Bedingung für die Möglichkeit eines Friedens, denn nur ein Kriegführender, den man zuvor anerkannt hat, kann zum Abschluß eines Friedensvertrags aufgefordert werden. Aus diesem Grund kann Schmitt behaupten, daß ein absoluter Krieg, ein totaler Krieg, aus rein politischer Sicht eine Katastrophe wäre, da er auf die Vernichtung des Feindes abzielt und damit das konstitutive Element des Politischen auslöschen würde.

Das Wesen des Krieges war immer das gleiche, aber seine Formen haben sich ständig weiterentwickelt. Hier stellt Carl Schmitt zwei völlig unterschiedliche Formen des Krieges gegenüber: den klassischen Krieg und den modernen Krieg.

Vom „geregelten Krieg“, der für die auf dem ius publicum europaeum basierende Ordnung des Westfälischen Friedens charakteristisch ist, sagt Carl Schmitt, er sei jener Krieg, in dem die Kriegführenden „sich bis in den Krieg hinein als Feinde respektieren, ohne sich gegenseitig als Verbrecher zu diskriminieren“. Der nach dem alten Völkerrecht geführte Krieg gehorcht Regeln, die beispielsweise festlegen, wie sich die Truppen gegenüber Gefangenen und Zivilisten zu verhalten haben, wie Neutrale zu respektieren sind, welche Immunität Botschafter genießen und wie ein Friedensvertrag abzuschließen ist. Er zielt praktisch nie darauf ab, einen Herrscher zu stürzen oder das Regime eines Landes zu verändern, sondern dient meist einfachen territorialen Zielen, also der Durchsetzung von Gebietsansprüchen. Schließlich ist diese Art von Krieg eine ausschließlich zwischenstaatliche Realität.

In Schmitts Augen bestand das große Verdienst des ius publicum europaeum darin, die mittelalterliche, moralisch inspirierte Lehre vom „gerechten Krieg“ durch eine politische Lehre vom „formgerechten Krieg“ (Vattel) zu ersetzen. Erst als sich souveräne Staaten durchsetzten, wurde diese neue Doktrin in die Tat umgesetzt. Diese Entwicklung führte zunächst zur Anerkennung der souveränen Persönlichkeit und der gleichen Souveränität der Staaten, dann zur Betonung nicht mehr des ius ad bellum (die Bedingungen, die den Krieg erlauben), sondern des ius in bello (die Bedingungen, unter denen der Krieg stattfinden muß). Von daher wird nicht mehr der Krieg akzeptiert, wenn er für gerecht erklärt wird, sondern der Feind wird in dem Maße „gerecht“, in dem er anerkannt wird. Der Krieg zwischen Staaten ist daher ein grundlegend symmetrischer Krieg. Er orientiert sich am Modell des Duells, bei dem sich Gegner gegenüberstehen, die sich beide an die Regeln desselben Kodex halten. Die Doktrin des „formalen Krieges“ schließlich kommt einer Begrenzung des Krieges gleich, da sie den Vernichtungskrieg unmöglich macht. 

Der totale Krieg der Neuzeit ist ein Krieg, der im Gegensatz zum „geregelten Krieg“ keinerlei Art von Begrenzung kennt. Diese Art von Krieg wird in der Bibel als „obligatorischer heiliger Krieg“ (milhemit mitzva) gegen die Feinde Gottes verherrlicht. Der Feind ist dann nicht mehr einfach nur ein Gegner, mit dem man sich versöhnen kann, sondern eine Gestalt des Bösen, die ausgerottet werden muß. 

Carl Schmitt setzt in seinem Aufsatz „Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff“ aus dem Jahr 1938 den Beginn des Zerfalls des alten Völkerrechts um 1890 an. Dieser Prozeß wird während des Ersten Weltkriegs abgeschlossen, der in noch traditionellen Formen beginnt, aber ab 1917 in einen Krieg neuen Typs mündet. Die Ära des modernen gerechten Krieges beginnt mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages und dem Wunsch der alliierten Mächte, Kaiser Wilhelm II. vor Gericht zu stellen, unter dem Vorwurf der „höchsten Beleidigung der internationalen Moral und der Heiligkeit der Verträge“, das heißt des Kriegsbeginns. Von nun an konnte derjenige, der einen Krieg erklärte, als Schuldiger angesehen werden, der wie ein Verbrecher verurteilt und bestraft werden mußte. 

Der moderne „diskriminierende“ Krieg, so wird Schmitt sagen, kommt einem Rückfall vom juristischen Konzept des iustus hostis, des gerechten Feindes, auf ein quasi-theologisches Feindkonzept gleich. Die ideologische Aneignung des Kriegsbegriffs führt in der Tat unweigerlich dazu, daß der Feind zum Verbrecher oder Gesetzlosen gemacht wird. Die Theorie des gerechten Krieges, schreibt Schmitt, zielt darauf ab, den Gegner, der einen ungerechten Krieg führt, zu diskriminieren. Der Krieg wird selbst zu einem Verbrechen im strafrechtlichen Sinne des Wortes. Der Angreifer wird zum Verbrecher in der extremen Bedeutung erklärt, die das Wort im Strafrecht hat.

Zu sagen, daß der Feind ein Verbrecher ist, ist eine Art, ihm jeden politischen Anspruch abzusprechen und ihn somit politisch zu disqualifizieren. Der Verbrecher kann keine Meinung oder Idee für sich beanspruchen, die man auf ihren Wahrheits- oder Falschheitswert hin prüfen könnte; er ist ein von Natur aus schädliches Wesen. Wenn man im Namen dessen kämpft, was absolut wertvoll ist, wird der, den man bekämpft, absolut entwertet: Er wird zum absoluten Unwert erklärt. Mit der Dämonisierung des Gegners wird die Vernichtung des Feindes, der mit dem absolut Bösen identifiziert wird, sogar über die notwendigen Bedingungen für den Sieg hinaus zu einem moralischen Imperativ. Der gerechte Krieg der Neuzeit hat somit von Anfang an einen doppelten Charakter: den eines eminent moralischen Krieges und den einer Polizeiaktion zur Bestrafung eines Feindes, der nun als Verbrecher wahrgenommen wird.

Carl Schmitt ist davon überzeugt, daß die politische Welt kein Universum, sondern ein Pluriversum ist. Der Grund dafür ist, daß die Menschheit entweder eine biologische oder eine moralische Kategorie ist; sie ist kein politisches Konzept. Schmitt modifiziert hier einen berühmten Satz von Pierre-Joseph Proudhon: „Wer Menschheit sagt, will betrügen.“ Der Begriff des Feindes der Menschheit ist eigentlich ein Widerspruch in sich, denn per definitionem kann die Menschheit keine Feinde unter den Menschen haben. Aus diesem Grund führen Kriege im Namen der Menschheit unweigerlich dazu, dem Feind seine Eigenschaft als menschliches Wesen abzusprechen, sie zu „Unmenschen“ zu machen: Im Namen der Menschheit zu kämpfen, führt notwendigerweise dazu, seine Feinde außerhalb der Menschheit zu plazieren. Gegen denjenigen, der aus der Menschheit entfernt wurde, ist alles erlaubt.

Der „gerechte Krieg“ der Neuzeit endet nicht mehr mit einem ordentlichen Friedensvertrag, sondern setzt sich im Frieden in anderen Formen fort. Nachdem die Waffen geschwiegen haben, müssen die Schuldigen noch bestraft werden, während die Bevölkerung eventuell „umerzogen“ werden muß.

Die Folgen der Gleichsetzung des Feindes mit einem Schuldigen, einem Kriminellen, der bestraft werden muß, sind also weitreichend. Die Kriminalisierung des Feindes führt dazu, daß die Einschränkungen (Hegungen), die das europäische öffentliche Recht dem Krieg auferlegt, aufgehoben werden. Der französische Rechtsphilosoph Jean-François Kervégan schreibt: „Dies führt dazu, daß das Völkerrecht in einen Anhang des Strafrechts und der Krieg in eine Polizeiaktion zur Unterdrückung des Schuldigen umgewandelt wird.“

Die Europäische Union wollte ein Markt sein, anstatt eine Macht zu sein. Dies erklärt den lächerlich geringen Umfang des Militärhaushalts der meisten ihrer Mitgliedstaaten. Wenn sie heute mit dem Krieg auf ihrem Territorium konfrontiert wird, kann sie nur ihre Hilflosigkeit feststellen. Ohne zu ermessen, was sie das kosten wird.






Alain de Benoist, Jahrgang 1943, französischer Philosoph und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschriften „Nouvelle École“ und „Krisis“. 2007 veröffentlichte er in der JF-Edition das Buch „Carl Schmitt und der Krieg“, auf dem der vorstehende Text basiert.

Carl Schmitt: Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff. Neusatz auf Basis der 1938 ersch. 1. Auflage. Duncker & Humblot, Berlin, broschiert, 58 Seiten, 18 Euro

Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. Duncker & Humblot, Berlin, broschiert, 119 Seiten, 24,90 Euro

Carl Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. Duncker & Humblot, Berlin, broschiert, 99 Seiten, 24,90 Euro

Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. Duncker & Humblot, Berlin, broschiert, 72 Seiten, 19,90 Euro

Carl Schmitt: Die Tyrannei der Werte . Duncker & Humblot, Berlin, broschiert, 91 Seiten, 19,90 Euro

Foto: Kusma Sergejewitsch Petrow-Wodkin, In der Feuerlinie, Öl auf Leinwand, 1915/16, St. Petersburg, Staatl. Russisches Museum: Der Gegner wird dämonisiert