© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/22 / 04. März 2022

Der Arbeits- und Fleißkultur geht die Arbeit aus
Nach eigener Fasson leben
(ob)

Der Essayist Wolf Lotter profiliert sich seit geraumer Zeit in allen ihm erreichbaren Medien als Experte für den Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Die Davoser Litanei von der „Großen Transformation“ mit älteren, gänzlich anders motivierten Mahnungen Hannah Arendts und Peter Druckers verknüpfend, verabschiedet sich Lotter von der „Geschichte des Abendlandes, die eine Geschichte des Aktionismus ist“. Nach dem Rauswurf Adams und Evas aus dem Paradies hätten ihre Nachfahren ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts essen müssen. Von Moses bis Marx sangen die klügsten Köpfe darum ein Loblied auf die harte Arbeit. Vor allem die deutsche Arbeits- und Fleißkultur des 19. Jahrhunderts habe das verfügbare Menschenmaterial „mit Haut und Haaren in die industrielle Ordnung eingefügt“. In ihr ließ es sich zwar nach Routinen und Normen, klaren Mustern und Regeln, die Teilhabe und Sicherheit versprachen, leben, aber leider nicht „nach der eigenen Fasson“. Da dieser Arbeitsgesellschaft aber, wie Arendt schon während des „Wirtschaftswunders“ befürchtete, im Zeichen der Digitalisierung die Arbeit ausgehe, sei es Zeit für einen Kurswechsel. Wenn Roboter Fließbandarbeiter und demnächst auch jeden anderen „Routineberufler“ ersetzen, sollten „humanistische und emanzipatorische Kräfte entfesselt“ werden, um „selbstbestimmtes, individuelles Tun“ zu fördern. Mehr Zukunftsoptimismus sei daher gefragt, um Menschen zu inspirieren, etwas Eigenes, Unverwechselbares zu schaffen und nicht einfach austauschbares Rädchen im Kollektiv zu sein. Wie das in der schönen neuen Davos-Welt zu realisieren wäre, verrät der betriebsame Lotter nicht (Hohe Luft 2/2022). 


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