© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/22 / 04. März 2022

Draculas deutscher Vetter
Filmgeschichte: Vor hundert Jahren feierte Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ Premiere / Die blutsaugende Hauptfigur ist eine Horror-Ikone
Alexander Graf

Nosferatu – Tönt dies Wort dich nicht an wie der mitternächtige Ruf eines Totenvogels. Hüte dich, es zu sagen, sonst verblassen die Bilder des Lebens zu Schatten, spukhafte Träume steigen aus dem Herzen und nähren sich von deinem Blut.“ 

Diese unheilvollen Worte leiten den Film „Nosferatu – Symphonie des Grauens“ ein, der vor hundert Jahren in den Kinos der Weimarer Republik anlief. Der Vampir-Stummfilm basiert auf dem Roman des irischen Schriftstellers Bram Stoker über den Grafen Dracula. Doch da beginnt es, kompliziert zu werden. 

Da die deutsche Produktionsfirma Prana-Film die Rechte daran nicht erwerben konnte, besann man sich auf das Mittel der Verfremdung. Aus dem viktorianischen London verlegte die Mannschaft um Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau die Handlung kurzerhand in die fiktive deutsche Stadt Wisborg. Die Namen der Hauptpersonen wurden verändert, einige ganz weggelassen, neue Elemente hinzugefügt, und aus Dracula wurde Orlok. Fertig war die Rahmenhandlung für das Wirken von Draculas deutschem Vetter. 

Der Film wurde ein finanzieller Fehlschlag

Wie im Roman kollidieren auch in „Nosferatu“ die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts und das Böse aus der archaischen Karpaten-Landschaft. Im Zentrum stehen auch bei Murnaus Film-Klassiker das Verlangen des untoten Adligen nach Blut und sein Verlangen nach einer Frau. 

Die Uraufführung am 4. März 1922 im Marmorsaal des Zoologischen Gartens in Berlin war das, was heute als großes Kultur-Event bezeichnet würde. Die Premierengäste waren angehalten, möglichst in Biedermeierkostümen zu erscheinen. Vor Beginn des Films stand eine Prologaufführung auf dem Programm, die von einem Orchester begleitet wurde. Nachdem der Vorhang wieder gefallen war, schloß sich an den Film ein Tanzspiel mit eigens dafür geschriebener Musik an. Ein Kostümball schloß den Premierenabend für das horrorbegeisterte Filmpublikum ab. 

Das Urteil der zeitgenössischen Kritiker war gespalten, jedoch überwiegend wohlwollend. Lob erntete „Nosferatu“ für die Naturaufnahmen und das Drehbuch. Zwiespältig fiel hingegen die Bewertung von Max Schreck als Vampir Graf Orlok aus. Dabei muß allerdings festgehalten werden, daß der 1879 in Berlin geborene, an den Kammerspielen in München engagierte Schauspieler seinem Namen alle Ehre machte und den Blutsauger mit seinem hageren Körperbau gelungen verkörperte. 

Einfluß auf die Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts

Ungeachtet dessen wurde das Werk für die Prana-Film ein finanzieller Fehlschlag. Er lief nur in kleinen Kinos. Hinzu kam juristischer Ärger mit Bram Stokers Witwe Florence. Sie ging gegen die Urheberrechtsverletzung vor. Schließlich ordnete ein Berliner Gericht 1925 an, daß das Filmmaterial inklusive sämtlicher Kopien vernichtet werden müsse. Da jedoch einige Filmrollen versteckt wurden, entging der rund eineinhalbstündige Streifen seiner Vernichtung. 

Seitdem versuchen sich Filmwissenschaftler an immer neuen Deutungen von „Nosferatu“. Denn der aus Kostengründen mit nur einer Kamera gedrehte Film läßt viel Raum für Interpretationen. So kann die von Orlok nach Wisborg gebrachte Pest als Anspielung auf die nach dem Ersten Weltkrieg wütende Spanische Grippe gelesen werden. Das fremdartige Aussehen des Vampirs, seine Herkunft aus Osteuropa und seine Rolle als Krankheitsbringer ist auch als Verweis auf antisemitische Stereotype gedeutet worden. Daneben inspirierten auch das Verhältnis des menschlichen Gegenspielers von Orlok, Thomas Hutter, zu seiner Frau Ellen und deren Gefühle für den Grafen andererseits die Phantasie von Zuschauern und Kritikern. 

Ungeachtet des kommerziellen Mißerfolges ist die Bedeutung von „Nosferatu“ für die Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts und insbesondere des Horror-Genres nicht hoch genug einzuschätzen. Sowohl auf die US-amerikanischen Gruselfilme der 1930er Jahre als auch die Optik der Vampire in Literatur und Kino hatte der todbringende Untote einen nachhaltigen Einfluß. Orlok wurde praktisch zum Stammvater eines eigenen Vampir-Typs, des hageren, monsterähnlichen Blutsaugers, der optisch das Gegenstück zu den ästhetischen Vampir-Dandys aus „Interview mit einem Vampir“ oder dem Schönling Edward Cullen aus der „Twilight“-Filmreihe verkörpert. 

Ironischerweise ist der Murnausche Blutsäufer damit das Gegenteil von Bram Stokers Dracula. Dessen Version des selbstbewußten adligen Verführers verkörperte Gary Oldman 1992 auf der Leinwand im gleichnamigen opulenten Kostümfilm. Neuere Leinwand-Adaptionen des Stoffes wie „Dracula Untold“ (2014) zeigen hingegen einen aufopferungsvollen transsilvanischen Fürsten, der in höchster Not durch einen Pakt mit finsteren Mächten zum Vampir wird. In diesem Fall ist der Titelheld ein stattlicher Krieger. 

Murnaus Orlok hingegen verstört mit seinem grimassenhaften Gesicht, den oftmals weit aufgerissenen großen Augen, die aus einem Gesicht starren, das von einer Hakennase dominiert wird. Seine krallenartigen Fingernägel, die langen Gliedmaßen und die spitzen Ohren geben ihm ein unmenschliches Aussehen. 

So ist „Nosferatu“ auch hundert Jahre nach seiner Premiere untrennbar mit dem Gesicht von Max Schreck verbunden. Seine gespensterhafte Erscheinung auf der Leinwand hat Graf Orlok als häßlichen deutschen Vetter des so oft neu verkörperten Draculas unsterblich gemacht. Mag Dracula alle Jahre wieder ein neues, dem jeweiligen Zeitgeist angepaßtes Gesicht bekommen, so gibt es doch nur einen Graf Orlok. 

Foto: Max Schreck als Graf Orlok in dem Stummfilm „Nosferatu“ (1922): Gespensterhafte Erscheinung