© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/22 / 04. März 2022

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Am 7. Januar hat ein französisches Familiengericht die Entscheidung gefällt, daß es Menschen mit vier Eltern geben kann. Im konkreten Fall handelt es sich um ein schwules und ein lesbisches Paar. Die Männer haben mit den Frauen Kinder gezeugt und bilden nach juristischer Auffassung samt Nachwuchs eine „Familie“.

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Und auf dem Marktplatz ein Häuflein „Omas gegen Rechts“, dieses Mal auch mit einem ukrainischen Fähnchen in der Hand.

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Das Wort „Mißgunst“ ist verschwunden. Die Sache nicht.

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Gina Thomas weist in einem ihrer Kommentare zum britischen Leben (FAZ vom 15. Februar) auf die neueste Debatte in der Anglikanischen Kirche über den angemessenen Umgang mit der kolonialen Vergangenheit hin. Bemerkenswert erscheint in dem Zusammenhang die Äußerung des ehemaligen Bischofs von Kuching auf Borneo, der meinte, die Briten sollten endlich aufhören, sich für das Empire zu entschuldigen, ohne das sein Volk immer noch aus Kopfjägern bestünde. Eine Auffassung, die Justin Welby, Zeichens Erzbischof von Canterbury und Primas der Anglikaner, sicher nicht teilt. Der macht sich gerade stark für die Beseitigung einer Statue von Tobias Rustat in der Kapelle des von demselben gestifteten Jesus College, Cambridge. Denn das Vermögen Rustats stammte unter anderem aus dem Sklavenhandel, weshalb man keiner PoC, die in das Gotteshaus gerät, den Anblick seines Denkmals zumuten dürfe. Was Gina Thomas mit dem Hinweis quittiert, daß Welby allerdings kein Problem damit habe, Geld aus Peking für ein China-Zentrum zu akzeptieren, obwohl das von einem Staat stamme, der nicht in ferner Vergangenheit, sondern in der Gegenwart Sklaven hält.

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Mobilisieren die Ethnopluralisten jetzt eigentlich Identitäre Brigaden für den Einsatz in der Ukraine?

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Der „Große Austausch“ spielt auch für die Debatten des französischen Präsidentschaftswahlkampfs eine Rolle. Das Spektrum reicht von der begeisterten Bejahung der „Kreolisierung“ durch den Linkssozialisten Jean-Luc Mélenchon bis zur entschiedenen Bekämpfung durch den Konservativen Éric Zemmour. Dazwischen bewegt sich die bürgerliche Kandidatin Valérie Pécresse, die erklärt hat, daß sie diese „Theorie des Hasses und der Angst“ verabscheue und bekämpfen werde. Aufschlußreich ist auch eine Stellungnahme Jacques Attalis, über vier Jahrzehnte einer der wichtigsten Berater französischer Staatsmänner, der seine Landsleute damit zu beruhigen sucht, daß stets „jede Generation durch die folgende“ ersetzt werde und sich dagegen zu stemmen nur als Folge irrationaler Todesangst zu erklären sei. Dasselbe gelte für die Tatsache, daß „die Völker ohne Unterbrechung durch andere ersetzt wurden“ oder eine Religion die andere ablöse. Wer das nicht begreifen wolle, gehöre auf die Seite der „Obskurantisten“, die die Errungenschaften der Aufklärung rückgängig machen und eine Diktatur errichten wollten.

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Eigentlich hatte ich mehr Solidarität mit dem Antifaschisten Putin erwartet.

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Es gibt zwei Erblasten der DDR, über die selten gesprochen wird, weil es um mentale Dispositionen geht, die sich nicht ohne weiteres zur Beschimpfung der Bewohner der neuen Bundesländer eignen. Gemeint ist ein weltanschaulicher Materialismus, der sich vor allem als Religionsfeindschaft äußert, und eine groteske Sympathie für die ehemalige Besatzungsmacht, die etwas von Stockholm-Syndrom hat.

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Im Rahmen einer Tagung vom vergangenen Dezember hat die an der Universität Harvard lehrende Geophysikerin Marisa Borreggine ausgeführt, daß die Wikingersiedlungen Grönlands mit einiger Sicherheit wegen fortschreitenden Temperaturabfalls seit 1350 aufgegeben wurden. Allerdings ist der Verbleib der aus Skandinavien stammenden Bevölkerung bis heute nicht vollständig geklärt. Auch wenn man voraussetzt, daß ein erheblicher Teil Kälte, Mangel, Krankheiten und den Angriffen der aus Norden vordringenden Eskimos zum Opfer fiel, bleibt ein Unsicherheitsfaktor. Denkbar wäre, daß sich Gruppen nach Nordamerika gerettet haben. In ihrer früheren Heimat wußte man jedenfalls nichts über den Verbleib. Als 1721 ein norwegischer Missionar auf Grönland ankam, erwartete er, die Nachfahren der Einwanderer vorzufinden, die er zum Protestantismus bekehren wollte. Aber außer einigen Ruinen gab es keine Hinweise mehr auf europäische Siedler.

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„Der Ukraine möchten die Amerikaner die Furcht vor dem übermächtigen und herrisch auftretenden Rußland damit nehmen, daß sie Vermittlung anbieten für den Fall eines Konflikts. Das muß den Ukrainern wie ein schlechter Scherz klingen. (…) Die 1991 aus der Sowjetunion entkommenen Staaten sehen sich vom russischen Großreich als ‘nahes Ausland’ unter Wohlverhaltens-Druck genommen. Nicht einmal die einst mit der Sowjetunion im Warschauer Pakt zusammengebundenen Länder Mittel- und Osteuropas trauen dem heutigen Frieden.“ (Johann Georg Reißmüller in einem Leitartikel der FAZ vom 22. November 1993)


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 18. März in der JF-Ausgabe 12/21.