© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/22 / 04. März 2022

Wem die Stunde schlägt
Gespenster der Vergangenheit: Im Kreml scheinen die Uhren rückwärts zu laufen
Konstantin Fechter

Eine ukrainische Waisenbetreuerin berichtet 1933 aus dem Bezirk Charkow über den von Stalin initiierten systematischen Entzug von Nahrung: „Die Kinder hatten aufgetriebene Bäuche, sie waren voller Wunden und Ekzeme, ihre Körper platzten fast. Wir holten sie herein, legten sie auf Tücher, und sie stöhnten. Eines Tages waren die Kinder plötzlich still, wir drehten uns um, um zu sehen, was los war, und sie aßen das kleinste Kind, den kleinen Petrus. Sie rissen ihm Fleischfetzen ab und aßen sie. Und Petrus tat dasselbe, er riß sich Fetzen ab und aß, soviel er konnte.“

Ein Schreiben der Einsatzgruppe C vom 2. Oktober 1941 verlautet lapidar: „Das Sonderkommando 4a hat in Zusammenarbeit mit Gruppenstab und zwei Kommandos des Polizeiregiments Süd am 29. und 30. September 1941 in Kiew 33.771 Juden exekutiert.“ 

Es sind diese unzähligen Fragmente des Leidens, die aus der osteuropäischen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Mosaik des Grauens formen. In den Ländern des Baltikums, Polen, Weißrußland und der Ukraine fanden Krieg, Verfolgung und Völkermord während der Epoche des europäischen Bürgerkrieges mit über 14 Millionen Toten ihren verstörenden Höhepunkt. Angesichts dieser Tatsache bezeichnete der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder die durch das wiedererstarkte Deutsche Reich und eine expansive Sowjetunion eingekreiste Region als „Bloodlands“. Was hier in den Jahren 1919 bis 1945 und darüber hinaus geschah, wirkt in seiner Dichte an Grausamkeit überhaupt nur glaubhaft, weil es millionenfach bezeugt ist.

Snyder argumentiert zu Recht damit, daß die Hervorhebung der Lager von Auschwitz-Birkenau, Treblinka oder Sobibor eine zu grobe Topographie der Vernichtung darstellt. Denn der Terror besaß kein gravitatives Zentrum, sondern wandelte die gesamte Landschaft der Blutlande zum Schlachthaus. Der Holodomor in den 1930er Jahren betraf jeden Winkel der Ukraine, weder Stadtbewohner noch die Bauern auf dem Land entkamen der langsamen Qual des Verhungerns. Die Massaker von Babyn Jar und Katyn, das war Mordarbeit an Feldwegen und Waldrändern. Noch heute werden auf den Ebenen zwischen Weichsel und Don Unmengen an Knochen, verrotteten Kleidungstücken und Erkennungsmarken geborgen. 

Verbindung aus Schuld, Sühne, Vergebung und Revision

Man muß die Geschichte der Blutlande kennen, um zu verstehen, warum in diesen Ländern eine Historiomanie herrscht. Ihre Obsession auf Vergangenes, seine Last und gleichzeitige Instrumentalisierung für das Heute teilen sie mit Deutschland und Rußland. Psychopathologisch verweist die Obsession auf von Furcht getriebene Zwangshandlungen, die den an ihr Leidenden immer wieder zwingen, sein Fehlverhalten neu zu durchleben. Ein unauflösbar wirkender Nexus aus Schuld, Sühne, Vergebung und Revision verbindet diese Völker seither untereinander. Und aus dem Unvermögen, einen Schlußstrich unter alte Rechnungen und vergangene Größe zu ziehen, reift derzeit neues Unglück für eine Region, die den Frieden so sehr verdienen würde. 

Ein besonderer Gefangener der Geschichte ist Wladimir Putin. Für ihn gilt exemplarisch, was einst Winston Churchill über das Land beiderseits des Ural sagte: „Rußland ist ein Rätsel innerhalb eines Geheimnisses, umgeben von einem Mysterium.“ Putins im Sommer 2021 veröffentlichtes Traktat „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ und seine bis in die Kiewer Rus datierte Argumentation für eine bevorstehende Grenzverschiebung gewährte einen seltenen Einblick hinter die sonst verschlossenen Kremltüren. Sie zeigte, daß in den Betrachtungen der russischen Führungsebene ein gänzlich anderer Maßstab an Historizität angelegt wird. Putin restauriert die Perspektive eines zaristischen Imperialismus, angereichert um zahlreiche slawophile und retrosowjetische Versatzstücke sowie eine unverrückbare Vorstellung der absoluten Dominanz von Geopolitik. Das Betrachten alter Landkarten und ihrer verstaubten Versprechen läßt ihn keine Ruhe finden. Wenig später folgte auf diese publizistische Offensive in der russischen Tageszeitung Kommersant ein die Ukraine anklagender Artikel aus der Feder Dmitri Medwedews, der mit den drohenden Worten endete: „Wir haben Zeit.“

Europa muß das Spiel der Feindschaft neu erlernen

Der Besitzanspruch auf die Zeit als das „vornehmste Attribut der Herrschaft“ (Elias Canetti) ist ein zentraler Bestandteil jeder politischen Krise. Je angespannter die gegnerischen Lager einander belauern, desto fiebriger betrachtet man in der Partie um die Macht das Verstreichen der Sekunden. Die Figuren sind gesetzt und in Position gebracht. Wer zu früh zieht, ist im Nachteil, wer es zu spät tut, der verliert.

Noch gravierender ist jedoch das diametral entgegengesetzte Zeitverständnis, welches sich nun endgültig offenbart. Während im Westen der Wunsch nach einer global geltenden Universalzeit dominiert, die nur die präzise getaktete Richtung nach vorn kennt, scheinen die Uhren im Kreml rückwärts zu laufen. Im Ringen zwischen Flüchtigkeit und Obsoleszenz gerät die Zeit selbst aus den Fugen, kann nicht mehr als oberstes Maß der Orientierung dienen. In dieser chronologischen Konfusion läßt sich zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht klar unterschieden. Findet sich kein verbindlicher Zeitstrahl mehr, wird das Bestimmen der Kausalität zur Unmöglichkeit. Welche westliche Provokation führte zu welcher russischen Reaktion? Ist Rußland tatsächlich ein von amerikanischer Globalhegemonie Getriebener oder gelten für diese wiedererwachende Großmacht nicht ganz eigene Gesetzmäßigkeiten? 

Indem die Welt für einen Moment in den Zustand der Zeitlosigkeit tritt, offenbart sich das eigentlich Überzeitliche: jene Triebkräfte des Lebens, die sich selbst durch die verbissensten Umdeutungsversuche verschiedenster Ideologien nicht aus dem Verhaltensmuster der Menschen bannen lassen. Darunter befindet sich auch eine im Westen seit längerem vergessene anthropologische Konstante: die Feindschaft. 

Europa muß sich eingestehen, daß der Blick, mit dem Rußland seine Nachbarländer betrachtet, seit geraumer Zeit ein feindseliger geworden ist. Nun hat es die Partie um Eurasien eröffnet, völlig ungewiß ist ihr Ausgang. Man mag die amerikanische Außenpolitik scharf kritisieren, doch es ist Rußland, das sich nun bewußt gegen die bewährte europäische Friedensordnung stellt und durch Krieg die Grenzen verschiebt. Eindrucksvoll bewahrheiten sich die von dem Staatsrechtler Carl Schmitt festgelegten Prämissen des Politischen (siehe auch Seite 13 dieser Ausgabe). Wie ein Blitz schlägt es in den postpolitischen Schlummer Europas: Da ist jemand, der zur Durchsetzung seines Willens den Tod des Anderen in Kauf nimmt. 

Gerade die Europäer haben das Spiel der Feindschaft wieder neu zu erlernen. Hierin liegt vielleicht eine noch viel größere Gefahr als in Putins Lust an außenpolitischer Brutalität. Ob Europa zur Kunst der realpolitischen Selbstvertretung anstelle ideologischer Selbstverblendung zurückfinden wird, bleibt fraglich. Ebenso wahrscheinlich ist eine nahtlose Übertragung der in der Corona-Pandemie angestauten Furcht und Hysterie auf das nun für alle Schwadroneure so reizvoll erscheinende Feld der antirussischen Sicherheitspolitik. Nichts aber ist in einer potentiellen Kriegslage gefährlicher als jene Mischung aus Hyperaktivismus, Schwarmdenken und Ahnungslosigkeit, die seit Jahren die europäische Politik kennzeichnet. Schon jetzt zeichnet sich eine Instrumentalisierung der Krisenlage gegen all jene ab, die aus unterschiedlichsten Gründen gegen das Säbelrasseln Einspruch erheben. 

Um jedoch in der wirklichen Welt, einer, in der das Aufeinanderprallen gegensätzlicher Ordnungssysteme und Überzeugungen nie aufgehört hat zu bestehen, bedarf es der Akzeptanz der Feindschaft. Sie nicht zu verleugnen ist der einzig mögliche Schritt, um ihrer destruktiven Logik zu entgehen. Denn die schlimmste Auswirkung des Antagonismus schärfster Art ist sein Vermögen, alle Beteiligten über kurz oder lang in rachsüchtige Zerrbilder ihrer selbst zu wandeln.

Die erste Maßnahme zur europäischen Rückkehr in die Realpolitik kann daher nur in einer Zügelung der Leidenschaft bestehen. Kühl und ohne Eifer muß abgewogen werden, wie auf die russische Eröffnungsstrategie zu reagieren ist. Gewalt kennt als einzige Antwort nur Gegenwalt. Diese muß jedoch nicht unweigerlich freigesetzt werden, oftmals vermag schon ihre Präsenz zu deeskalieren. Unerläßlich ist es daher, zu einer glaubhaften Sprache der Stärke zu finden, ohne die eine Abschreckung und die Aufrechterhaltung der territorialen Integrität der europäischen Staaten nicht möglich sein wird. Für diese bedarf es jedoch des Gewahrwerdens eigener Interessenlagen und einer daraus ableitbaren deutschen und europäischen Interessenformulierung. Vielleicht wird durch das russische Muskelspiel möglich, was zu Zeiten der Migrationskrise undenkbar erschien, und eine Verhärtung Europas und seiner Grenzen erfolgt.

Zugleich gilt es, die Verhältnismäßigkeit zu wahren. Rußland mag wieder zu einer ernsthaften Bedrohung geworden sein, das macht es aber nicht zum Feind der Menschheit. In den Zermürbungskampf um Legitimation, Einflußsphären und Informationshoheit darf sich keine ideologische Komponente mischen, stets muß zum Verhandlungstisch zurückgefunden werden. Vor nichts warnte Schmitt mehr als vor jener „absoluten Feindschaft“, die einen Gegner allenfalls noch auf Knien erträgt, ihn meist jedoch bis zu seiner endgültigen Auslöschung hetzt.

Eine Welt der Feindschaft ist ein kalter und rücksichtsloser Ort. Sollte sich eine Rückkehr der Blutlande in Europa bewahrheiten, stehen den kommenden Generationen düstere Zeiten bevor. Doch es gibt Hoffnung. Gerade die osteuropäischen Gesellschaften haben sich in den letzten drei Jahrzehnten als ein spannendes Projekt des Aufbruchs in das 21. Jahrhundert erwiesen. Neben dem Unvermögen, von der Geschichte loszulassen, findet sich dort als dessen positive Kehrseite ein beeindruckender Wildwuchs von historischen Traditionen und neuen Einflüssen. In einer vitalen Jugendkultur wirken Rapper gemeinsam mit mittelalterlichen Folklore-Gruppen, entstehen Musikvideos, in denen aufgemotzte Nobelkarossen auf qualmenden Reifen durch slawische Museumsdörfer driften. Den Sinn für das Eigene behalten bei gleichzeitiger virtuoser Nutzung der zeitgeistigen Klaviatur, das vermag derzeit keine andere Region Europas. Es bleibt Putins historische Schuld, daß er den ukrainischen Weg in die Zukunft brutal unterbunden hat und junge Idealisten auf beiden Seiten der Front in einen unnötigen Tod führt.

Gefahr eines Flächenbrandes im Weltkriegsformat

Wer von Feindschaft spricht, soll von der Solidarität nicht schweigen. Diese kann nur bei der Ukraine liegen. Der unerwartet heftige Widerstand ihrer hoffnungslos unterlegenen Streitkräfte hat gezeigt, daß es wahrhaftig nicht an Tapferkeit mangelt. Alles andere als ein leichter Sieg wird sich für das russische Regime als propagandistische Katastrophe erweisen. Schon jetzt belegen zahlreiche Beispiele von ukrainischem Soldatentum, wie schnell die postheroische Banalität beeindruckenden Schicksalen weichen kann. Die Sache dieser jungen Nation ist noch nicht verloren und wird auch schwere Niederlagen überdauern. Doch je länger sich die Ukrainer der Zerschlagung ihres Landes widersetzen, desto größer wird die Gefahr, daß ein bis dato lokaler Konflikt zu einem Flächenbrand in Weltkriegsformat anwächst. Deeskalation wird in Zeiten der sozialen Erregungsnetze ein immer schwerer zu beherrschender Prozeß werden. Mit jedem Tag wächst die Häme der Abermillionen Frontvoyeure über zerstörte T-90, mit jeder Woche erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, daß ein bloßgestelltes und immer rücksichtsloser agierendes Rußland bei der Zielauswahl nervös wird und Granaten auf dem falschen Boden einschlagen. 

Denn die Zeit beherrscht niemand in dieser Verwerfung, weder Medwedew noch irgendein westlicher Stratege. Der barocke Schriftsteller John Donne, dessen Leben von Religionskriegen, Pestausbrüchen und Hungersnöten geprägt war, brachte es auf den Punkt: „Darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt, sie schlägt dir selbst.“ Jeder an dieser Krise Beteiligte – all die Politiker, Militärs, Publizisten, jeder Arbeitskollege in der Mittagspause – sollte diesen Rat verinnerlichen und genau überlegen, was er vom Weltgeschehen in diesem Moment einfordern will.

Foto: Ukrainische Demonstranten in den Straßen der Hafenstadt Odessa, wenige Tage vor dem Kriegsbeginn: Die Sache dieser jungen Nation ist noch nicht verloren und wird auch schwere Niederlagen überdauern