© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/22 / 04. März 2022

Warum die europäischen Konservativen sich nicht in den Schoß Rußlands begeben sollten
Keinen Illusionen hingeben
David Engels

Fast ein Dreivierteljahrhundert ist es her, daß wesentliche Teile Europas ein enges Bündnis mit den Vereinigten Staaten eingegangen sind, denen es nicht nur gelungen ist, den Kalten Krieg gegen die totalitäre Sowjetunion siegreich zu beenden und die Teilung Europas zu überwinden, sondern auch bis heute abendländische Interessen auf anderen Kontinenten zu repräsentieren. 

Freilich wurden die europäischen Nationalstaaten zu Juniorpartnern der Vereinigten Staaten degradiert und durch die Amerikanisierung massiv kulturell umgestaltet, doch war dies bereits vor dem Ersten Weltkrieg absehbar und ein Schicksal, das von den meisten Europäern offensichtlich nicht ungern akzeptiert wurde. Doch nun scheint es, als ob viele Menschen nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Teilen Westeuropas angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine nicht etwa auf der Seite des Angegriffenen und jenes atlantischen Bündnisses stehen, dem auch die Mehrheit der Ukrainer beitreten will, sondern vielmehr Partei ergreifen für Rußland – eine eigentlich erstaunliche Tatsache, deren Verständnis viel über die Bruchlinien innerhalb der europäischen Gesellschaft aussagt.

Daß die Vereinigten Staaten sich ebenso auf der linken Seite des politischen Spektrums wie in weiten Teilen der außereuropäischen Welt aufgrund ihres ebenso ungeschickten wie nur notdürftig moralisch verbrämten Interventionismus unbeliebt gemacht haben, ist bekannt; ebenso, daß ihre zunehmend aggressive Forcierung einer nur noch kulturmarxistisch zu nennenden Ideologie ihnen auf seiten der Konservativen viele Feinde gemacht hat. 

Viele Konservative fürchten daher nicht ganz zu Unrecht, daß ein Anschluß der Ukraine an das westliche Verteidigungsbündnis auch in diesem Teil der Welt den Todesstoß für traditionelle Werte bedeuten würde und sehen in einer Okkupation durch das vermeintlich konservative Rußland einen möglichen Gegenpol. Die Sympathie vieler Konservativer mit Rußland beschränkt sich aber nicht auf den ukrainischen Kontext, sondern betrifft ganz Europa, bezweifeln doch viele, daß die gegenwärtige linksliberale Dominanz noch eine innere Umkehr zu traditionelleren Werten tolerieren wird, und setzen daher ihre Hoffnungen auf Rußland als eine „Art deus ex machina“: Je mächtiger Rußland in Europa werde, desto aussichtsreicher sei die Lage für die europäischen Konservativen, lautet das Kalkül.

So verständlich diese Argumente im Ansatz sein mögen, so unvollständig und problematisch sind sie doch in ihrer Gesamtheit. Sieht man einmal ab vom moralischen Odium, einen mörderischen Angriffskrieg zu verniedlichen und jenes nationale Selbstbestimmungsrecht, das den Konservativen doch ansonsten so wichtig ist, gerade der Ukraine zu verweigern, lassen sich hier zwei grundlegende Irrtümer feststellen: der Irrglaube, Rußland sei ein integraler Teil des Abendlands und die fehlerhafte Gleichsetzung des russischen Konservatismus mit dem europäischen.

Rußland ist, wie spätestens seit dem 19. Jahrhundert gerade auch von russischen Denkern immer wieder hervorgehoben wurde, ein eigenständiger, uns fremder Kulturkreis, der zwar einzelne Wurzeln mit dem Abendland teilt, diese aber eigenständig umdeutet und letztlich einer autonomen, gänzlich andersgearteten Dynamik folgt. Rußland beständig gegen den Westen in Schutz zu nehmen und um ein wohlwollendes „Verständnis“ zu werben, das man sonst nicht einmal  den unmittelbaren europäischen Nachbarn entgegenbringt, allen voran, was Rußlands Anrecht auf einen eigenen strategischen Großraum betrifft, bedeutet letztlich nichts weniger als die Desolidarisierung mit den Interessen der eigenen abendländischen Zivilisation, so problematisch deren gegenwärtiger ideologischer Kurs auch sein mag – eine Haltung, die kurios an den Selbsthaß der Linksliberalen erinnert, wenn auch aus einer diametral anderen Perspektive.

Während die Linke das Abendland aufgrund seiner angeblichen historischen Schuld von „white guilt“ über „systemic racism“ bis „toxic masculinity“ verachtet und bewußt demontieren will, empfinden die russophilen Konservativen ihre eigene Zivilisation als unwiderruflich pervertiert und projizieren alle ihre Hoffnungen auf die junge russische Kultur, die sie meist als einzig zukunftsträchtig interpretieren – letztlich eine kuriose Form des Exotismus, welche, morphologisch gesprochen, wohl ähnliche Motivationen wie die Konversion westeuropäischer Konservativer zum Islam aufweist.

Der andere, hiermit eng verbundene Fehler beruht auf einem Mißverständnis der ideologischen Prioritäten des russischen Regimes, dem naiv unterstellt wird, es sorge sich tatsächlich um die Zukunft des „echten“, also konservativen, christlichen, nationalstaatlichen und ethnisch-kulturell homogenen Abendlandes. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Konservative Werte wie die Sicherung der Freiheit des Einzelnen sind in Rußland nie Priorität gewesen; ein positives Verhältnis zum stetig einflußreicheren Islam stellt ein zentrales Standbein der Macht Putins dar, der sich ebenso gerne mit orthodoxen Popen wie Imamen umgibt und bewußt tschetschenische Söldner auf das ukrainische „Brudervolk“ hetzt; der Grad an Respekt für nationale Autonomie manifestiert sich vor unseren Augen in den zerbombten Städten der Ukraine; und die Instrumentalisierung muslimischer Migranten zur Destabilisierung Polens zeigt zur Genüge, wie glaubwürdig der angebliche Einsatz für die kulturelle Identität des Abendlands ist.

Freilich: Man sollte alle diese Punkte durchaus aus russischer Perspektive interpretieren lernen und zur besseren Analyse der Weltlage selbstverständlich auch ein besseres und vorurteilsfreies Verständnis für russische Interessen entwickeln. Als abendländischer Patriot sollte man aber auch einsehen, daß die russische Politik eben in vielen Teilen inkompatibel mit den Grundzielen und -vorstellungen der europäischen Konservativen ist. Rußland ist kein Staat, sondern eine Welt für sich, und kann eben nicht in die typisch abendländischen Kategorien eines „Nationalstaates“ gepreßt werden, ohne dadurch sein eigenes Wesen zu verlieren: nämlich eine ureigene räumliche Logik, in der es um nichts weniger als die Errichtung beziehungswiese Wiederherstellung eines russisch dominierten, faktisch aber extrem multikulturellen Großraums zwischen Weichsel und Amur geht, der sich niemals in ein befriedigendes Verhältnis zur kleinteiligen Staatenwelt Europas setzen lassen wird.

Dies bedeutet nicht, daß Rußland nicht eines Tages der östliche Bündnispartner eines starken abendländischen Staatenverbundes sein könnte; nie aber wird es sich zum institutionellen Teil eines solchen degradieren lassen. Daher sind es eben auch nicht die Belange der deutschen, spanischen oder französischen Konservativen, welche die Prioritätenliste des Kremls anführen, sondern die Frage, wie Rußland erneut zu einem dominierenden politischen Akteur Eurasiens aufsteigen kann, was Rußlands westliche Nachbarn angesichts der inhärent imperialen Logik des russischen Weltbilds durchaus als eine reale Drohung empfinden müssen. Sicherlich liegt es im russischen Interesse, durch gelegentliche Förderung der europäischen Konservativen die ideologische Bedrohung durch den Linksliberalismus abzuwenden und zudem seine Gegner zu schwächen; spätestens ab dem Moment aber, wo es tatsächlich zur Errichtung eines starken und geeinten konservativen Europas kommen sollte, werden Rußlands gegenwärtige Bündnispartner feststellen, daß Moskau, um seine Westflanke zu schützen, in Europa eine „Divide et impera“-Politik betreiben wird, die der amerikanischen in nichts nachsteht und man vom Regen in die Traufe geraten ist.






Prof. Dr. David Engels, Jahrgang 1979, ist Professor für Römische Geschichte in Brüssel und forscht am Posener West-Institut (Instytut Zachodni). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Dexit-Beschluß der AfD („Ein Bauchgefühl-Fehler“, JF 17/21).

Foto: Europa zwischen dem Westen unter Führung der USA und Rußland: Je mächtiger Rußland in Europa werde, desto aussichtsreicher entwickle sich die eigene Lage, so das Kalkül einiger europäischer Konservativer