© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/22 / 04. März 2022

Deutschland als Pufferstaat
Vor siebzig Jahren schlug Stalin im allierten Notenwechsel Konzepte der Wiedervereinigung vor
Jürgen W. Schmidt

Zu Beginn der fünfziger Jahre hatte der Prozeß der Westintegration der Bundesrepublik Deutschland beachtlich an Fahrt aufgenommen. Anfang 1952 stand die Einbeziehung der Bundesrepublik Deutschland in die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) unmittelbar bevor. Dies bedeutete nicht nur die Möglichkeit einer künftigen Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, sondern auch einen erheblichen Zugewinn an nationaler Souveränität und politischem Handlungsspielraum für den westlichen deutschen Teilstaat. In der von Walter Ulbricht geführten DDR wetterte man heftig gegen diese Entwicklung und bezeichnete die für Mai 1952 geplante Unterzeichnung des EVG-Vertrages als „Unterzeichnung eines Generalkriegsvertrages“. 

Nach einem Friedensvertrag Abzug aller Besatzungstruppen

Mitten in diese aufgeheizte politische Situation platzte vor genau siebzig Jahren die Stalin-Note vom 10. März 1952. Namens der Sowjetunion wurde darin den anderen drei Siegermächten USA, England und Frankreich die Einberufung einer Viermächtekonferenz vorgeschlagen. Sie sollte beschließen, mit Deutschland den 1945 in Potsdam angekündigten Friedensvertrag zu unterzeichnen. An der Aushandlung des Vertrages sollte Deutschland, und zwar in Form einer gesamtdeutschen Regierung, beteiligt werden. Über das Zustandekommen dieser gesamtdeutschen Regierung hatten sich die Siegermächte auf der Konferenz zu einigen.

In Deutschland sollten alsdann die laufende Entnazifizierung beendet werden und binnen eines Jahres nach Inkrafttreten des Friedensvertrages alle Besatzungstruppen abziehen. Deutschland sollten zudem keinerlei Handelsbeschränkungen auferlegt und die Schaffung nationaler Verteidigungsstreitkräfte inklusive des Rechts zu einer begrenzten Rüstungsproduktion zugestanden werden. Gleichfalls sollten in Gesamtdeutschland grundlegende demokratische Rechte, insbesondere bezüglich der Schaffung eines pluralistischen Parteiensystems nebst Presse- und Versammlungsfreiheit gelten. Allerdings war das entstehende Gesamtdeutschland nur auf die deutschen Gebiete diesseits von Oder und Neiße beschränkt. Das neue Gesamtdeutschland durfte sich zudem an keinem Bündnis beteiligen, das sich gegen alle oder auch nur einen der Siegerstaaten richte. 

So weitgehende, von der breiten Öffentlichkeit in beiden deutschen Staaten nicht erwartete sowjetische Vorschläge erregten natürlich erhebliche Aufmerksamkeit und drohten den gerade laufenden Prozeß der Integration der Bundesrepublik Deutschland in westliche Bündnissysteme zu untergraben. Folglich übergaben die drei westlichen Siegermächte in Moskau bereits am 25. März 1952 eine Antwortnote, welche die sowjetischen Vorschläge zwar nicht direkt ablehnte, aber gewaltiges Bremspotential für eine nun mögliche deutsche Wiedervereinigung besaß. 

Entgegen den sowjetischen Vorschlägen war für die Westmächte nämlich nicht der schnelle Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland, sondern die vorherige Bildung einer gesamtdeutschen Regierung nebst dem dazu nötigen Procedere der Knackpunkt künftiger Verhandlungen. Also zuerst kontrollierte „freie Wahlen“ mit nachfolgender gesamtdeutscher Regierungsbildung anstelle eines schnell zustande kommenden „Friedensvertrages“ mit Deutschland unter Beteiligung der Deutschen.

Außerdem bestand man seitens der drei Westmächte darauf, daß Deutschland gemäß UN-Charta das freie Recht haben müsse, Bündnisse nach seinem Gusto einzugehen und folglich Mitglied in einem defensiven europäischen Bündnis (der EVG) sein dürfe. Weiterhin müßten die deutschen Grenzen im Osten erst bei den Beratungen zum Friedensvertag besprochen und nicht gleich von Anfang an als an Oder und Neiße gesetzt gelten. 

In einer zweiten Note vom 9. April 1952 ging Stalin zwar teilweise auf die westlichen Vorschläge ein und gestand gesamtdeutsche „freie Wahlen“ unter Aufsicht der vier Siegermächte zu, wollte aber an der Existenz der Oder-Neiße-Grenze nicht rütteln lassen und lehnte die freie Bündniswahl für das neue Gesamtdeutschland ab. Auch die politischen Führungen in beiden deutschen Teilstaaten hatten insgeheim kein sonderliches Interesse an einer Realisierung der Stalinschen Vorschläge vom März 1952. Bundeskanzler Konrad Adenauer wollte die Westintegration der Bundesrepublik nicht gefährden, immerhin wurde gerade auf dem Höhepunkt der politischen Diskussion um die Stalin-Note im Mai 1952 der EVG-Vertrag unterzeichnet.

Aber auch SED-Chef Walter Ulbricht konnte sich an zehn Fingern abzählen, was „freie Wahlen“ für die Zukunft der Kommunisten im sowjetischen Satellitenstaat DDR bedeuteten. So endete der Notenaustausch der westlichen Siegermächte mit der Sowjetunion im August 1952 letztlich nur in gegenseitigen Beschuldigungen, ohne ernsthaft auszuloten, ob die Stalin-Note vom März nur eine Störaktion gegen die Westintegration der Bundesrepublik darstellte oder doch das Potential zur Entstehung eines gesamtdeutschen, teilneutralisierten Staates hatte. 

Nur eine Propagandaaktion oder eine „verpaßte Chance“?

Die Meinung der Historiker zur Stalin-Note vom März 1952 ist bis heute gespalten. Während die Masse der deutschen Historiker wie Hermann Graml und Gerhard Wettig die Stalin-Note nur als Propagandaaktion betrachten, geht eine Minderheit um Wilfried Loth und Rolf Steininger von einer „verpaßten Chance“ aus. Daß Stalins Angebot damals ernsthafter gemeint war, als man im Westen zugestand, zeigen neue russische Forschungen zu Lawrenti Berija, der seinerzeit in der sowjetischen Führung einen der stärksten Befürworter der Stalin-Note darstellte. Geheimdienstchef Berija, welcher im Kampf um die Stalinnachfolge Nikita Chruschtschow unterlag, hatte demzufolge für den Fall seines Machtantritts 1953 angedacht, unter Opferung der DDR in „freien Wahlen“ ein Gesamtdeutschland entstehen zu lassen, welches das kapitalistische Westeuropa und das kommunistische Osteuropa als neutrale Zone trennen sollte.    

Foto: DDR-Propagandaplakat zu den Stalin-Noten im Frühjahr 1952: Weder Bonn noch Ost-Berlin hatten insgeheim ein sonderliches Interesse an einer Realisierung des Konzeptes des sowjetischen Diktators