© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/22 / 04. März 2022

„Feindlich-negativer Autor“
Interessante Offenbarungen aus den Briefen des Schriftstellers und Büchnerpreisträgers Wolfgang Hilbig an DDR-Behörden
Jörg Bernhard Bilke

Sein erstes Buch, der Lyrikband „Abwesenheit“ (1979), erschien in Frankfurt am Main und nicht in Ost-Berlin oder Leipzig. Schon das Titelgedicht offenbarte die Fremdheit des Autors Wolfgang Hilbig gegenüber dem Land, wo er lebte und arbeitete: „wie lange noch wird unsere abwesenheit geduldet keiner bemerkt wie schwarz wir angefüllt sind wie wir in uns selbst verkrochen sind in unsere schwärze.“ Hier nahm ein noch unbekannter Arbeiter, der Gedichte schrieb, nicht teil am lauthals verordneten „Aufbau des Sozialismus“, der von den Schriftstellern Optimismus und Vertrauen in den Staat einforderte. Als Arbeiterkind hätte er, wenn er die DDR-Wirklichkeit in leuchtenden Farben besungen hätte, durchaus in die Ränge der „sozialistischen Nationalliteratur“ aufsteigen können bis zur Auszeichnung mit dem Nationalpreis.

Geboren 1941 in Meuselwitz bei Altenburg/Thüringen (sein Vater wurde nach Stalingrad vermißt), erlernte er den Beruf eines Bohrwerkdrehers. Von seinem Betrieb 1967 in einen Leipziger „Zirkel schreibender Arbeiter“ delegiert, schied er dort schon ein Jahr später wieder aus, weil seine Gedichte auf völliges Unverständnis stießen. Entdeckt als Lyriker wurde er dann während einer der legendären Lesungen, die Siegmar Faust am 26. Juni 1968 auf einer Bootsfahrt durch den Leipziger Elsterstausee veranstaltete. Da er in den Jahren 1970/79 als Heizer, zunächst in Meuselwitz, später in Ost-Berlin arbeitete, konnte er von der DDR-Justiz nicht als „Arbeitsscheuer“ belangt werden. Dennoch wurde er am 10. Mai 1978 von der Staatssicherheit verhaftet und bis 3. Juli einem Verhör unterzogen, danach aber ohne Anklageerhebung entlassen. Siegmar Faust machte nach seiner Ausbürgerung 1976 Karl Corino vom Hessischen Rundfunk auf Wolfgang Hilbigs Gedichte aufmerksam. So kam es zur Westveröffentlichung und zur Auszeichnung des Autors im November 1983 mit dem „Brüder-Grimm-Preis“ der Stadt Hanau.

Ständige Überwachung durch die Stasi

Daß Wolfgang Hilbig in seiner Entwicklung als Schriftsteller bis zur Ausreise am 6. November 1985 starken Behinderungen durch die DDR-Behörden ausgesetzt war, wußte man. Doch erst jetzt erfährt man weitere Einzelheiten. Die ständige Überwachung der Stasi, wo er als „feindlich-negativer Autor“ geführt wurde, erscheint gegenüber diesen Zeugnissen staatlicher Vernichtungspolitik fast als zweitrangig. Dem Literaturwissenschaftler Michael Opitz, Verfasser einer Wolfgang-Hilbig-Biographie (2017), ist es zu verdanken, daß alle diese Briefe, Aktennotizen und Observierungsberichte aufgespürt, gesammelt und, sachkundig kommentiert, veröffentlicht wurden.

Begonnen hat des Autors aufreibender Kampf gegen die DDR-Bürokratie damit, daß er dem „Büro für Urheberrechte“ in Ost-Berlin am 17. Februar 1979 in einem Brief anzeigte, daß sein Gedichtband „Abwesenheit“ im Sommer im S. Fischer-Verlag in Frankfurt/Main erscheinen werde. Um für diese Westveröffentlichung eine Genehmigung zu bekommen, mußten von zwei DDR-Verlagen Negativgutachten beigebracht werden. Trotz positiver Einschätzung dieser Gedichte durch den literaturkundigen DDR-Autor Stephan Hermlin (1915–1997) schrieb das Lektorat des Aufbau-Verlags am 14. September 1978, daß man sich „keine engeren Arbeitskontakte zwischen uns“ vorstellen könne, während der Mitteldeutsche Verlag in Halle dem Autor vorwarf, „einseitig individualistisch“ orientiert zu sein und „ideologische Auseinandersetzungen“ zu vermeiden.

Enttäuscht von diesen Absagen wandte sich Wolfgang Hilbig, der in seinen Briefen immer höflich, aber unnachgiebig in seinen Forderungen blieb, am 27. Juni 1979 in einer Eingabe von vier Druckseiten an die nächsthöhere Instanz, an Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann, worauf aber nicht dieser selbst, sondern sein Stellvertreter, der „Bücherminister“ Klaus Höpcke, am 27. Juli antwortete und das Veröffentlichungsverbot im „Ausland“ rechtfertigte. Er freilich hatte schon Erfahrungen gesammelt im Verbieten von Literatur. Als der Hinstorff-Verlag in Rostock 1978 eine Ausgabe mit Frühschriften des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard plante, wies er Verlagsleiter Harry Fauth an, das zu verhindern. Die Skandinavistin Gisela Perlet, damals Lektorin bei Hinstorff, hatte daraufhin gekündigt und nach dem Mauerfall 1989 in einem Aufsatz die Hintergründe dieser literaturfeindlichen Aktion aufgedeckt. Auch Jurek Beckers vierter Roman „Schlaflose Tage“ (1978) durfte in keinem DDR-Verlag erscheinen, weil, so rechtfertigte Klaus Höpcke das Verbot, dort die sozialistische Gesellschaftsordnung als „vorübergehend“ bezeichnet werde.

Der Lyrikband erschien dennoch im August 1979 in Frankfurt/Main. Die nächste Hürde der DDR-Bürokratie, die zu überwinden anstand, war, 1985 ein Westvisum für ein Jahr zu bekommen, weil dem widerborstigen DDR-Autor vom Deutschen Literaturfonds in Darmstadt ein Arbeitsstipendium zugesprochen worden war. Obwohl Kurt Hager, der Leiter der „Ideologischen Kommission beim ZK der SED“, seine Zustimmung strikt verweigert hatte, genehmigte Erich Honecker die befristete Ausreise, von der Wolfgang Hilbig nicht zurückkehrte.

Danach, in der bundesdeutschen Demokratie, konnte er seine schriftstellerische Begabung voll entfalten. Bis zu seinem Tod am 2. Juni 2007 veröffentlichte er 15 Bücher. Dafür wurde er mit 18 Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter dem renommierten Georg-Büchner-Preis (2002).

Diese Dokumentation ist ein kaum hoch genug einzuschätzender Beitrag zur Kriminalgeschichte der DDR-Literatur. Wolfgang Hilbig konnte, trotz aller Widerstände, Schriftsteller werden. In Ines Geipels und Joachim Walthers Buch „Gesperrte Ablage. Unterdrückte Literaturgeschichte in Ostdeutschland 1945–1989“ (2015) kann man nachlesen, welchen Autoren das nicht vergönnt war.

Michael Opitz (Hrsg.): Wolfgang Hilbig. „Ich unterwerfe mich nicht der Zensur“. Briefe an DDR-Ministerien, Minister und Behörden, in Neue Rundschau, Heft 2/2021, S. Fischer-Verlag, Frankfurt/Main 2021, broschiert, 208 Seiten, 17 Euro