© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/22 / 04. März 2022

Vollbremsung für Ostseefischer
Faktisches EU-Fangverbot für Hering „alternativlos“ / Komplexe Ursachenforschung notwendig
Dirk Glaser

In Mecklenburg-Vorpommern wird kein frisch gefangener Hering mehr industriell verarbeitet. Die Firma Euro Baltic auf Rügen mußte Ende Februar ihre Produktion (2021: 29.000 Tonnen) einstellen, denn der EU-Fischereiministerrat hat die Fangquoten für Hering und Dorsch so drastisch reduziert, daß sie einem faktischen Fangverbot gleichkommen. Mit Schleppnetzen dürfen diese „Brotfische“ 2022 in der westlichen Ostsee überhaupt nicht mehr gefischt werden. Lediglich ihre Anlandung als Beifang, beschränkt auf wenige hundert Tonnen, ist noch gestattet.

400 Fischer zwischen Flensburger Förde und Stettiner Haff verlieren damit schlagartig ihre Haupteinnahmequelle. Die Brüsseler Entscheidung droht aber nicht nur den 400 Familienbetrieben, die von den 1.600 des Jahres 1991 noch übrig sind, die Grundlage zu entziehen. Sie räumt auch die letzten Relikte einer kleinteiligen maritimen Alltagskultur in den Hafenorten der deutschen Ostseeküste ab, wie die Umweltjournalistin Rike Uhlenkamp schildet. Was bleibt, sei die Monotonie einer Kette von Jachthäfen (Natur, 2/22).

Für Christoph Zimmermann, den von Uhlenkamp dazu befragten Leiter des Thünen-Instituts für Ostseefischerei, war die rigorose EU-Maßnahme trotzdem überfällig. Obwohl er die offizielle, den Fischern die Schuld zuschiebende Begründung, die Bestände seien „überfischt“, aus der wissenschaftlichen Sicht des Meeresbiologen mit einem Fragezeichen versieht. Beim Dorsch sei man sich bis heute nicht sicher, ob die Bestände wirklich schrumpfen, weil mehr Tiere gefangen werden als nachwachsen. Und um das für den Hering nun definitiv festzustellen, habe sein Rostocker Institut zwar seit 2005 Myriaden von Daten gesammelt, sei aber zugleich auf zwei andere Ursachen für Ertragsrückgänge gestoßen.

Erstens kürzte die EU die Fangquoten deutscher Fischer seit 2017 um 94 Prozent, während ihre europäischen Kollegen, die sich in Skagerrak, wo sich die Heringsschwärme im Sommer sammeln, kräftig bedienen, nur Einbußen von 57 Prozent auferlegt wurden. Erst im Dezember 2021 rangen sich die EU-Fischereiminister in Verhandlungen mit Norwegen dazu durch, die Heringsfangquoten im Kattegat und Skagerrak drastisch zu senken. Damit, so macht Zimmermann den deutschen Fischern Mut, hätten die Bestände in der westlichen Ostsee „zum allerersten Mal überhaupt wieder die Chance, sich zu regenerieren“. Was allerdings noch „einige Jahre“ dauern werde.

Zweitens sollte man sich auf den gern bemühten „Klimawandel“ konzentrieren. Heringe ziehen in jedem März zum Laichen von der Nordsee in die Ostsee. Steigen dort die Wassertemperaturen, legen sie ihre Eier in flachen Küstenzonen ab. Nach drei Wochen schlüpfen aus ihnen winzige Larven, die sich einige Tage aus ihrem Dottersack ernähren, bevor sie die fast gleichzeitig schlüpfenden Kleinstkrebslarven fressen können. Da aber seit langem warme Winter die Heringe zu immer frühzeitigerem Laichen einladen, verhungert ihr Nachwuchs zu Millionen, weil die Dottersäcke sich leeren, bevor die Krebslarven erscheinen. Denn Krebse bilden Larven nur, wenn sie genügend Algen vorfinden, deren Wachstum wiederum vom Stand der Sonne abhängt. Da der logischerweise gleich bleibt, während sich das Wasser nun früher erwärmt, müssen sich Herings- und Krebslarven „verpassen“.

Brüssels „harter Schnitt“ sei jetzt alternativlos. Die Vollbremsung sei die einzige Stellschraube, die der EU-Fischereipolitik verblieben sei, damit sich die Bestände mittelfristig halbwegs erholen. Ob dann noch deutsche Fischer da sind, um sie zu fangen, mag Zimmermann nicht garantieren.

Thünen-Institut für Ostseefischerei:  www.thuenen.de

Foto: Hering: Ihr Nachwuchs verhungert zu Millionen