© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/22 / 04. März 2022

Eine vergessene Landschaftszone
Die wachsenden Probleme der nördlichen Waldökosysteme haben wenig mit dem Klimawandel zu tun
Christoph Keller

Die Abmilderung des Klimawandels hält der emeritierte Bremer Geographieprofessor Jörg-Friedhelm Venzke für „eine der bedeutendsten Menschheitsaufgaben“. Diese Verbeugung vor dem grünen Zeitgeist tut seiner Studie über die „unter Druck“ geratenen nördlichen Ökosysteme keinen Abbruch (Geographische Rundschau 1-2/22). Mit zwanzig Millionen Quadratkilometern stellen die borealen Nadelwälder (Schweden, Finnland, Nordrußland/Sibirien, Hokkaidō, Alaska/Kanada) die größte Vegetationszone der Erde dar. Trotzdem stehen diese Wälder der kaltgemäßigten Klimazone in der medialen Aufmerksamkeit weit hinter der Arktis und dem tropischen Regenwald zurück.

Das öffentliche Desinteresse an dieser „vergessenen Landschaftszone“ dürfte sich damit erklären, daß sich ökologisch negative Entwicklungen wie die Verarmung der Flora und Fauna oder Permafrost-Degradationen von mehreren Metern Mächtigkeit binnen weniger Jahre nicht ähnlich monokausal auf die CO2-Emissionen und die Aufheizung der Erdatmosphäre zurückführen lassen wie schmelzende Grönland-Gletscher oder die verschwindenden Kohlenstoffspeicher Amazoniens oder Indonesiens.

Denn die Zukunft der Borealis, so ist sich Venz­ke als Erforscher ihrer Umweltgeschichte sicher, werde nicht nur oder primär „von den physischen Determinanten des anthropogen verursachten und getriebenen Klimawandels“ bestimmt. Sie hänge vielmehr von der Intensität direkter menschlicher Eingriffe in diesen Naturraum ab. Und die nehmen zu: Vier „boreale Staaten“ – Schweden, Finnland, Kanada und Rußland – waren am weltweiten Handel mit Forstprodukten zwischen 2014 und 2018 mit einem jährlichen Exportvolumen von 50 Milliarden Dollar beteiligt. Am Südrand der sibirischen Borealis zeigen sich daher schon durch exzessive Abholzungen verursachte Rückgänge der Waldfläche. Rußland verlor seit 2001 durch Rodung zwecks Gewinnung landwirtschaftlicher Nutzflächen und Erschließung von Bodenschätzen 8,4 Prozent seiner Waldfläche, knapp zwei Drittel davon in Sibirien.

Isolierte Naturschutzreservate als „umweltmoralisches Feigenblatt“

Das seien anthropogene Landschaftszerstörungen, die mit der Erderwärmung nichts zu tun hätten. Und die sogar obere Schichten des Dauerfrostbodens der Wälder schneller auftauen ließen als dies durch Klimaveränderungen möglich sei. Nicht weniger verheerend habe sich etwa der Ölsandabbau in der kanadischen Provinz Alberta oder der Kahlschlag von Wäldern in Labrador erwiesen, die Staudamm-Projekten weichen mußten. Diese regenerative und scheinbar „grüne“ Form der Energiegewinnung für die bevölkerungsreichen Industriegebiete im Südosten Kanadas werfen mittlerweile „gewaltige ökologische und soziale Probleme auf“. Bei großflächigen Überstauungen ertrinken Wälder mitsamt ihrer Rohhumusdecke, zersetzen sich, Faulschlamm produzierend, und befördern so milderes Regionalklima, was wiederum die Thermoerosion des Permafrosts beschleunigt.

Ob im globalen Kontext boreale Wälder aufgrund solcher rabiaten Zugriffe noch als CO2-Senke und nicht doch bald als vom Menschen zusätzlich geschaffene CO2-Quelle fungieren, ist für Venzke derzeit eine offene Frage. Sollten sich, so sein pessimistisch-realistisches Szenario, bisherige Ausbeutungstrends stur fortsetzen, blieben von der Borealis bis 2050 lediglich einige isolierte Naturschutzreservate als „umweltmoralisches Feigenblatt“ übrig. Wer hingegen optimistisch in die Zukunft nachhaltig gestalteter, resilienter borealer Wälder blicken wolle, komme ohne Visionen vom Wachstumsverzicht nicht aus. „Der große Gedanke der Askese“, wie ihn gleichzeitig mit den „Club of Rome“-Markierungen von „Grenzen des Wachstums“ der deutsche Schriftsteller Alfred Andersch vor 50 Jahren formulierte, sei heute aktueller denn je. Setze er doch voraus, der Mensch sei fähig zu sagen: „Es ist genug. Es reicht uns.“

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