© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/22 / 04. März 2022

Der Flaneur
Zeit der Kobolde
Holger Ziehm

Ich taste mich durch den dichten Nadelwald, es wird jetzt dunkel, man sieht nicht mehr viel.  Ich liebe es hier draußen. Die Stille, die scheinbare Verlangsamung der Zeit. Das Erlebnis, die Natur beobachten zu können, im Wechsel der Jahreszeiten. Der Wald gehört mir. Nicht jeder kann das von sich sagen. Man hat mich schon gefragt, was ich überhaupt damit will.

Hinter mir, an der Nordwestgrenze, über einer steilen Wiese, habe ich eine Bank aufgestellt, die mir meine Frau geschenkt hat. Dort kann man herrlich sitzen und die Aussicht genießen. Mit einem Buch und einem Glas Wein. Vielleicht noch etwas Käse und Wurst und einem Kanten Brot. Viel mehr braucht man eigentlich nicht.

Riesige Buchen und Eichen stehen hier. Zu meinen Lebzeiten sollen sie keine Motorsäge sehen.

Hier gibt es weder einen Weg noch einen Pfad, nur ich weiß, wie man in dem Restlicht noch sicher zwischen den Bäumen und an den spitzen Ästen vorbeikommt. Es gibt Menschen, die glauben an Waldgeister und Kobolde. In Island nimmt man das ernst, da glaubt angeblich jeder daran. Da drehen sogar die Bagger von der Baustelle ab, wenn es Kobold-Alarm gibt, habe ich gehört. Wenn sie wirklich existieren, dann beginnt jetzt ihre Stunde. Nun sollte der Mensch langsam zurück, in seine Welt der Straßenlaternen, der Autos, des Lärmes und der Oberflächlichkeit. 

Ich erreiche eine Vegetationsgrenze, hier beginnt die Laubwaldzone meines Forstes. Riesige alte Buchen und Eichen stehen hier. Zu meinen Lebzeiten sollen sie keine Motorsäge sehen. Hier ist es wieder heller, und ich kann sogar nochmal die Sonne sehen. Die Bäume sind jetzt kahl, ihr Laub liegt überall dick auf dem Waldboden.  

Die Zivilisation ist weit weg, ich vermisse sie nicht. Ich bin zu Fuß hier, es gibt kein Auto, das irgendwo auf einem Waldweg auf mich wartet. Die Sonne steht ganz tief im Westen und scheint zwischen den Bäumen hindurch. In wenigen Augenblicken wird sie untergehen. Nur noch wenige Zentimeter schwebt sie über dem sanften Hügel, rechts von mir. 

Das Laub am Boden strahlt im Gegenlicht der letzten Sonnenstrahlen in einem zauberhaften Rosa, als ob die Blätter glühen würden. Diese Farbe habe ich so in der Natur noch nie gesehen. Ich bleibe stehen und bewundere den einzigartigen Moment. Mich erfaßt ein tiefes Glücksgefühl.