© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/22 / 11. März 2022

Magische Abwehrrituale
Antirussische Affekte: Der aufgeklärte Europäer wähnt sich auf der guten Seite
Thorsten Hinz

Im Ersten Weltkrieg war der Deutsche dem Franzosen ein „Boche“ und dem Angelsachsen ein „Hunne“. Die deutsche Propaganda hielt dagegen: „Jeder Schuß ein Ruß. Jeder Tritt ein Britt. Jeder Stoß ein Franzos.“ Im Zweiten Weltkrieg wurde „der Russe“ zum „Untermenschen“ degradiert. Über solchen Primitivismus kann der postmoderne Europäer, mithin auch der Deutsche, nur den Kopf schütteln. In seinem Selbstbild ist er demokratisch geläutert, weltläufig und kommunikativ befähigt. Niemals würde er ein Individuum, egal woher, auf Kollektividentitäten reduzieren – die ja ohnehin nur „Konstrukte“ sind.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich allmählich eine Übereinkunft herausgebildet: Die Engländer sind keine Nachfahren von Bomber-Harris, die Polen keine Vertreiber-Abkömmlinge mehr, die Russen tragen weder ein Killer- noch ein Vergewaltiger-Gen in sich, und die Deutschen werden höchstens spaßeshalber als Nazi-Kids tituliert – und falls ihre Zahlungsbereitschaft zu wünschen übrig läßt. 

Was hat man sich hierzulande amüsiert über den kindischen Kriegspatriotismus der Amerikaner, als sie deutsche Autos und französischen Wein boykottierten und ihre Pommes von „French Fries“ in „Freedom Fries“ umbenannten, weil Deutschland und Frankreich sich 2003 dem Irak-Feldzug des damaligen US-Präsidenten George W. Bush verweigerten.

Seit dem Ukraine-Krieg ist alles anders. Die Stillegung von Nord Stream 2 und der Ausschluß Rußlands aus dem internationalen Finanzkreislauf mag man als strategische Entscheidungen betrachten, die mittelbar Rußlands militärische Schlagkraft verringern. Doch was soll es bewirken, wenn eine Spielzeugfirma ab sofort keine Produkte der Unternehmensmarken Playmobil und Lechuza mehr nach Rußland liefert? Man wolle damit ein Zeichen der Solidarität mit den Menschen in der Ukraine setzen, heißt es zur Begründung. Und quält zu diesem Zweck russische Kinder, denen man ein beliebtes Spielzeug vorenthält.

In Deutschland lebende Russen erfahren nun, daß ihre Sprößlinge als Spielkameraden ungeeignet sind. Das betrifft auch rußlanddeutsche Kinder. Um gegen den Krieg „ein Zeichen zu setzen“, ist Restaurantinhabern eingefallen, keine Russen mehr zu bedienen. Supermarktketten verbannen russischen Wodka aus den Regalen. Im Netz machte die – zurückgenommene – Anweisung einer süddeutschen Bäckerei Furore, den „Russischen Zupfkuchen“ von seinem anstößigen Adjektiv zu reinigen. Auch Entlassungen russischer Mitarbeiter sind bekannt geworden. Sogar der Schriftsteller Wladimir Kaminer, der Lieblingsrusse der Deutschen – der sich schon lange vor dem Krieg in der Kritik an seinem präsidialen Namensvetter von keinem übertreffen ließ, erhält Mails mit der Aufforderung, umgehend seine Koffer zu packen. Zwecks Entscheidungshilfe wird ihm schon mitgeteilt, daß nur ein toter Russe ein guter Russe sei. 

Ein wenig Überlegung würde genügen, um sich klarzumachen, daß die in Stuttgart, Hamburg oder Berlin lebenden Russen auf die Entscheidungen des Kreml genausowenig Einfluß haben wie die russischen Soldatenmütter, die heute für das Überleben ihrer einzigen Söhne beten. Um den gesunden Menschenverstand und die sozialen Standards außer Kraft zu setzen, bedurfte es keiner offiziellen Anweisung zum Russen-Mobbing. 

Diejenigen, die sich einen politischen, sozialen oder moralischen Mehrwert davon versprechen, sind selbst Beschädigte – beschädigt durch die propagandistische Totalisierung des Krieges. Darin wird Putins Invasion, anders als ähnlich gelagerte US-Interventionen, nicht nur als leidvoll und völkerrechtswidrig beschrieben, sondern zur Exaltation eines Magisch-Bösen stilisiert, das magische Abwehrrituale herausfordert.

Um opportunistisches Handeln zu erzeugen, ist kein Gesetz nötig. Die osmotische Wahrnehmung über die soziale Haut genügt. Die Operndiva Anna Netrebko wird zwar an der Berliner Staatsoper „als herausragende Sängerin“ geschätzt, doch sieht die Intendanz „angesichts des brutalen Krieges keine Möglichkeit für eine Fortsetzung dieser Zusammenarbeit“. 

Dabei ist Frau Netrebko keineswegs als Walküre dem Sturmangriff einer russischen Kampfdivision vorangeritten, sondern hat in bewegenden Worten mitgeteilt, daß der Schmerz und das Leid in der Ukraine ihr das Herz brächen; sie erhoffe und bete für das Ende des Krieges. Das genügt den auf allen Kanälen tätigen Kriegserklärern nicht. 

Nach deren Willen hätte Netrebko sich die Nato-Sprachregelung zu eigen machen und den russischen Präsidenten als Kriegsverbrecher anprangern müssen. Was bedeutet hätte, sich ungeachtet möglicher Folgen für sie und ihre in Rußland lebenden Verwandten und Freunde als Wurfgeschoß im Propagandakrieg instrumentalisieren zu lassen. 

Davon abgesehen, daß erpreßte politische Bekenntnisse wertlos sind und sich gegen den Erpresser wenden, sind sie ein Kennzeichen totalitärer Gesellschaften. Der Irrsinn beschränkt sich nicht nur auf Deutschland. An der Universität Mailand-Bicocca stand sogar ein Dostojewski-Seminar auf der Kippe, um so „jede Kon­troverse, insbesondere interne, in Zeiten starker Spannungen“ zu vermeiden.

Doch bleiben wir im eigenen Land, wo ein Volk von Wehrdienstverweigerern, Transgender-Aktivisten und politisch Unmündigen, das Politik nur als Gut-Böse-Antagonismus begreift, seine Kriegsangst durch magische Akte bewältigt. Als mildernder Umstand läßt sich anführen, daß die Deutschen seit Jahrzehnten einer Kampagnenkaskade ausgesetzt sind: Die Ukraine-Berichterstattung knüpft an den Corona-Kreuzzug an. Davor war die Klima-Apokalyptik in Mode, die der „Refugees Welcome“-Euphorie folgte. Und jede Kampagne wird durchwaltet vom transzendenten „Kampf gegen rechts“. 

Der böse Russe bietet für die im Lockdown aufgestauten Aggressionen ein noch lohnenderes Zielobjekt als der Ungeimpfte, läßt sich doch an ihn – vielleicht – der Tätervolk-Pokal weiterreichen. Der zivilisatorische Firnis bröckelt und die freiheitlich-demokratische Legierung erweist sich als Tünche. Wieder mal.