© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/22 / 11. März 2022

„Schuld ist der deutsche Michel“
Bundeswehr: Nach dem Ukraine-Schock stellen die Deutschen fest, daß die Politik ihre Streitkräfte kaputtgespart hat. Wie konnte es so weit kommen? Was sind die eigentlichen Probleme? Bestsellerautor Josef Kraus gibt Antwort
Moritz Schwarz

Herr Kraus, könnte die Bundeswehr einen Angriff wie den Putins auf die Ukraine abwehren? 

Josef Kraus: Unabhängig davon, daß Deutschland sich im Gegensatz zur Ukraine auf die Nato-Beistandspflicht berufen kann, bin ich im Zweifel. Zwar ist die Bundeswehr mit 183.000 Mann in etwa so stark wie die ukrainische Armee mit 209.000, sie hat de facto aber wenig mehr Kampf- und Schützenpanzer als die Ukraine. Die rund eintausend ukrainischen Panzer sind zwar zum Teil veraltet, aber auch die Panzer der Bundeswehr sind nur zu rund zwei Dritteln einsatzbereit: Von unseren 289 Leopard-Kampfpanzern sind 183 einsatztüchtig, also 64 Prozent. Vom – wohlgemerkt neuen – Schützenpanzer Puma gibt es bei uns 350, aber auch davon ist ein Drittel derzeit nicht einsatzfähig. Und der 1971 in der Bundeswehr eingeführte Schützenpanzer Marder, mit offiziell zweitausend Stück, ist ein anfälliges Auslaufmodell. Zum Vergleich: Rußland verfügt über knapp 3.500 Kampfpanzer und nochmal etwa 10.000 eingemottet im Depot. 

Diese Zahlenverhältnisse wirken absurd.  

Kraus: Ja, es ist absurd. Und dies illustriert auch, daß der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, am Tag des Überfalls auf die Ukraine per LinkedIn öffentlich kundgetan hat, wir stünden „blank“ da, wörtlich: „Du wachst morgens auf und stellst fest, es herrscht Krieg in Europa (und) ... die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da … Ich bin angefressen!“ Immerhin aber ist es mutig, daß er das laut zu sagen wagt. Klartext aus dem Munde aktiver Generale wäre schon früher nötig gewesen. Stattdessen aber herrschte bei den mehr als zweihundert Generalen und Admiralen der Bundeswehr zumeist Schweigen.

In Ihrem Buch „Nicht einmal bedingt abwehrbereit. Die Bundeswehr in der Krise“ haben Sie die Verfassung unserer Streitkräfte analysiert. 

Kraus: Der Titel bezieht sich auf den berühmten Spiegel-Artikel „Bedingt abwehrbereit“, der 1962 die Spiegel-Affäre auslöste: Damals galt dieses Fazit des Nachrichtenmagazins bezüglich der Bundeswehr als ein Skandal. In unserem Buch kommen mein Mitautor Richard Drexl und ich nun allerdings zu dem Schluß, daß die Truppe heute nicht einmal mehr nur „bedingt“ abwehrbereit ist. Statt dessen spricht Ex-Verteidigungsminister Rupert Scholz in dem Vorwort, das er beigesteuert hat, von einem „katastrophalen Zustand“ – den wir auf fast dreihundert Seiten verifizieren: Flieger, die nicht fliegen; Panzer, die nicht fahren; Schiffe und U-Boote, die nicht schwimmen. 

Im Gegensatz zu Ihrem Co-Autor sind Sie kein ehemaliger Stabsoffizier. Wie kommen Sie als vormaliger Gymnasialdirektor und Präsident des Deutschen Lehrerverbandes dazu, sich mit Verteidigung und Sicherheitspolitik zu befassen?

Kraus: Erstens war ich ab 1969 zwei Jahre Zeitsoldat im Kalten Krieg, am Ende Leutnant eines Starfighter-Geschwaders, allerdings nicht beim fliegenden Personal. In dieser Zeit wurde mir deutlich bewußt, was der Preis für Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist. Zweitens begegnete ich 1988 dem damaligen Verteidigungsminister Manfred Wörner, kurz vor dessen Ernennung zum Nato-Generalsekretär. Er hat wohl dafür gesorgt, daß ich bald nach der deutschen Wiedervereinigung in den Beirat des Verteidigungsministers für Fragen der Inneren Führung berufen wurde. Dort habe ich sieben Verteidigungsminister kennengelernt – bis eine Frau von der Leyen ab 2014 ein paar andere und mich nicht mehr im Beirat haben wollte. Nun, das hat mir Magengeschwüre erspart. Doch in den gut zwei Jahrzehnten zuvor gewann ich hochinteressante Einblicke in die Bundeswehr, auch im Auslandseinsatz, was mich tief beeindruckt und zu meinen publizistischen Analysen motiviert hat.

Was sind nach diesen die Ursachen der Krise?

Kraus: Man muß sich klarmachen, daß die leider sogar noch schlimmer ist, als eben beschrieben. Denn es fehlt nicht nur an – einsatzfähigen – Waffensystemen. Es fehlt sogar an den Voraussetzungen, um dieses Problem überhaupt zu lösen, nämlich an effektiven Strukturen und einem dynamischen Beschaffungswesen. Und als wäre das nicht schlimm genug, fehlt es überdies an Kompetenz in Bereichen, ohne die sich der moderne Kampf nicht mehr führen läßt, nämlich der Cyber-Kriegsführung. 

Sie meinen, das ist, als hätte man früher die Einführung des Panzers oder der Luftwaffe verschlafen?

Kraus: In etwa, denn die Kriege der Zukunft werden hybride Kriege sein, die nicht nur zu Lande, zu Wasser und in der Luft, sondern auch im Cyber- und Weltraum geführt und entschieden werden. Doch damit sind wir leider immer noch nicht am Ende der Problemliste. Obendrein fehlt es massiv an Personal, so sind derzeit rund 20.000 Dienstposten nicht besetzt. Und das, obwohl die Truppenstärke bis 2025 auf 203.000 Mann aufgestockt werden soll. Woher die zusätzlichen 40.000 Soldaten kommen sollen, hat noch niemand erklärt.

Wer ist verantwortlich für diesen Zustand?

Kraus: Grundsätzlich sind alle etablierten Parteien mitschuldig, manche mehr, manche weniger. Vor allem natürlich die Regierungsparteien und ganz besonders die Bundesregierung, der es zu verdanken ist, daß seit rund zehn Jahren die Chefs an der Spitze im Bendler-Block – dem Berliner Sitz des Verteidigungsministeriums – bei Amtsantritt keine Ahnung von der Bundeswehr hatten.

Konkret meinen Sie Ursula von der Leyen, oder?

Kraus: Für die Bundeswehr war die Dame ein Totalausfall. Schlimmer noch, sie hielt der Truppe wegen marginaler Vorfälle ein „Haltungsproblem“ in Sachen demokratischer Gesinnung vor, etablierte Kitas in Kasernen, ließ Uniformen für Schwangere anschaffen und diesen Gender-Murks installieren. Sie gab 200 Millionen Euro für ineffektive externe „Beraterdienste“ aus, beschloß unnötigerweise das Aus für das funktionsfähige Gewehr der Truppe, das G36 – und wurde für all das schließlich zur Präsidentin der EU-Kommission befördert.

Ihr Vorgänger Karl-Theodor zu Guttenberg hat bei seinem Rücktritt 2011 behauptet, er habe ein „bestelltes Haus“ hinterlassen. Stimmt das? 

Kraus: Der Herr Baron war es, der ab 2010 alles darangesetzt hat, die Wehrpflicht auszusetzen, um politisch zu punkten. Wie absehbar, rächt es sich jetzt, daß der für den Nachwuchs der Truppe so wichtige Bewerber-Pool, den die Wehrpflicht dargestellt hat, von ihm de facto abgeschafft worden ist – Stichwort Personalnot. Doch sollten wir eines nicht vergessen: Über diesen Leuten stand vier Legislaturperioden lang eine Frau – die übrigens im Verteidigungsfall Oberbefehlshaberin der Streitkräfte gewesen wäre – Angela Merkel. Mit der Bundeswehr hatte sie nichts am Hut. Nehmen Sie ihren letzten Koalitionsvertrag von 2018: Wenn der Seitenumfang etwas über die Bedeutung eines Politikfeldes aussagt, kann man davon ableiten, daß Merkel die Bundeswehr nicht interessierte. Denn nur ganze drei Seiten dieses 177seitigen GroKo-Vertrages zwischen CDU/CSU und SPD waren dem Punkt „Moderne Bundeswehr“ gewidmet. 

Jetzt soll diese wegen der Ukraine-Invasion mit einem „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro aufgerüstet werden. Wird nun also alles gut?

Kraus: Damit allein sicher nicht. Ich gehe davon aus, daß wohl schon die Hälfte davon gebraucht wird, nur um das fehlende Personal aufzustocken sowie Topleute im Bereich EDV, IT und Informatik zu rekrutieren. Zudem, machen wir uns nichts vor: 100 beziehungsweise 50 Milliarden Euro – letzteres ist der deutsche Verteidigungshaushalt – sind schnell verbraucht. Eine Fregatte kostet 1,5 Milliarden Euro, ein U-Boot eine Milliarde, ein neuer Kampfjet zwischen 50 und 100 Millionen pro Stück und ein einzelner Leopard-Kampfpanzer 15 Millionen – Ersatzteile und Wartung noch gar nicht mitgerechnet.

Reicht das Geld also nicht, um die Bundeswehr abwehrfähig zu machen? 

Kraus: Wenn es richtig eingesetzt wird, und nicht nur neue bürokratische Monster anfüttert, dann wohl zunächst einmal schon – wenn wir uns darauf verlassen können, daß es bei den 100 Milliarden nicht bleibt, sondern die Ampel ihre Zusage hält: Endlich das Verteidigungsbudget auf über zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern, so wie es von den Mitgliedern der Nato 2002 – also vor zwanzig Jahren beim Nato-Gipfel in Prag! – vereinbart worden ist. Derzeit liegen unsere Verteidigungsausgaben bei 1,45 bis 1,55 Prozent des BIP – je nach Art der Berechnung.

Aber werden die 100 Milliarden Euro überhaupt ausbezahlt, oder wird, wenn sich nach dem Ukraine-Krieg die Lage beruhigen sollte, der Betrag wieder gekürzt? 

Kraus: Tja, es knirscht bei dem Thema ja jetzt schon im Gebälk zweier Ampel-Parteien – bei der SPD und bei den Grünen. Und auch wenn FDP-Finanzminister Christian Lindner diese 100 Milliarden recht überzeugt als „Sondervermögen“ verkündet hat, wird ihm das auch in seiner Partei auf die Füße fallen. Denn was bitte bedeutet denn „Sondervermögen“? Es sind neue Schulden!

Liegt es aber überhaupt am Geld? In Ihrem Buch erscheint das schon genannte Beschaffungswesen der Bundeswehr als per se unfähig. Gleiches gilt für Teile der deutsch-europäischen Rüstungsindustrie, die offenbar völlig unfähig ist, fristgerecht und zum vereinbarten Preis funktionierende Waffensysteme zu liefern. 

Kraus: Das Beschaffungsamt mit Hauptsitz in Koblenz ist in der Tat ein Moloch, dem mit mehr Geld nicht beizukommen ist. Bereits jetzt hat es ja zehntausend Beschäftigte und ist doch nicht in der Lage, auch nur für ausreichend Ersatzteile, Munition und Grundausstattung wie Zelte, Stiefel oder warme Unterwäsche für unsere Soldaten zu sorgen. Was die Rüstungsindustrie angeht, so ist der Fehler freilich auch, daß die Planer der Bundeswehr seit Jahrzehnten dem letzten technologischen Schrei hinterherjagen, statt robuste Waffensysteme zu bestellen. Am Ende kommen anfällige Systeme heraus, wie etwa der neue Schützenpanzer Puma, bei dem von den 71 ersten Exemplaren schon nach einem Jahr nur noch 27 funktionierten. Oder das neue Transportflugzeug A400M „Atlas“, von dem 2021 nur zehn der dreißig Maschinen einsatzfähig waren. Am düstersten war es jedoch 2020 bei den Hubschraubern, als nur 23 Prozent der neuen Transporthelikopter NH90 und sogar nur 18 Prozent der neuen Kampfhubschrauber UH „Tiger“ flogen.

Offenbar hat die real existierende Bundeswehr eine geringere Einsatzfähigkeit als die frühere! Woran liegt das?

Kraus: Das hat eine Vielzahl von Gründen. Ich glaube aber, daß es einen Hauptgrund gibt: der fehlende Rückhalt in der Bevölkerung und den Medien und damit in der Politik. Tatsächlich will der deutsche Michel in vielen Bereichen doch gar nicht wissen, was wirklich auf der Welt los ist. Offenbar haben die Deutschen sich für immer und ewig auf die sogenannte Friedensdividende eingestellt, sich also daran gewöhnt, die Bundeswehr zu unterfinanzieren, um vormalige Verteidigungsausgaben als sozialpolitische Wohltaten zu genießen. Dazu kommt der naive, ja oft militante Pazifismus vor allem in den Medien, bei linken Parteien, aber auch an Schulen, Universitäten und in Teilen der Kirche. Der deutsche Michel soll und will nicht wissen, daß wichtige Waffensysteme nicht voll einsatzbereit sind. Laut dem aktuellen, im Januar erschienenen Rüstungsbericht sind derzeit, je nach Waffensystem, im besten Fall 75 Prozent, im mittleren Fall 60 und in manchen Fällen sogar nur 40 Prozent einsatzfähig. Und nun blicken Sie mal zum Vergleich in die Ukraine – wo die Armee nun einen unglaublichen Rückhalt in der Bevölkerung erlebt, weil diese begreift, wie wichtig sie tatsächlich ist! 

Eine Frage noch an den studierten Psychologen Kraus: Was ist mit Putin los? Ist er „wahnsinnig“, wie unter anderem FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann ihm attestiert hat? Oder reagiert er auf die Provokation des Westens, wie etwa der US-Politologe John Mearsheimer meint? 

Kraus: Nein, Putin ist weder ein Fall für die Psycho-Couch, noch greift hier die simple Frustrations-Aggressions-Theorie, nach der Putin so handelt, weil der Westen ihn durch die Nato-Osterweiterung frustriert habe. Diese ist vielmehr einfach eine Folge der Tatsache, daß in der historischen DNS der Balten und der anderen Osteuropäer eine Angst vor Rußland steckt. Zudem gibt es ein Selbstbestimmungsrecht der Völker und Staaten. Unterlassen wir also die Psychologisierung Putins. Er ist schlicht ein Kriegsverbrecher, der viele, viele zivile Opfer in Kauf nimmt. Er wandelt wohl auf Stalins Spuren, der Anfang der dreißiger Jahre mit dem Holodomor Millionen von Ukrainern in den Hungertod gezwungen hat.    






Josef Kraus, schrieb Bestseller wie „Der Pisa-Schwindel“ oder „Helikoptereltern“, 2019 erschien „Nicht mal abwehrbereit. Die Bundeswehr in der Krise“. Der Diplom-Psychologe, Jahrgang 1949, gehörte von 1991 bis 2013 dem Beirat Innere Führung des Bundesverteidigungsministers und 2014 bis 2018 der Bildungskommission des Hessischen Landtags an. 

Foto: Übende Panzergrenadiere: „Wir haben in unserem Buch verifiziert, daß die Bundeswehr in ‘katastrophalem Zustand’ ist ... Es reicht nicht, nun mit 100 Milliarden aufzurüsten, auch der Verteidigungs-haushalt muß auf zwei Prozent erhöht werden“