© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/22 / 11. März 2022

Im Schatten des Krieges
Flüchtlinge: Immer mehr Ukrainer suchen Zuflucht vor den Bomben des Kreml / Warnung vor antirussischer Stimmung
Florian Werner

Am Berliner Hauptbahnhof stehen alte Leute und Frauen mit Kindern aus der Ukraine dichtgedrängt auf dem Bahnsteig. Die Männer im wehrfähigen Alter mußten in der Heimat bleiben, im Krieg gegen die vorrückende russische Armee. Helfer versuchen die Neuankömmlinge in der deutschen Hauptstadt zu versorgen (siehe Seite 7). 

„Es ist ganz klar, daß Berlin der Hauptankunftsort ist. Berlin ist das Tor zu Europa, zu Deutschland“, stellte die Regierende Bürgermeisterin  Franziska Giffey (SPD) bei einem Ortstermin mit Journalisten fest. Es brauche endlich eine Gesamtverteilung der Kriegsflüchtlinge im gesamten Bundesgebiet, auch durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). „Ohne das wird es nicht gehen“, mahnte die Politikerin. 

Mit dabei: Bundesinnenministerin Faeser (SPD). Auch sie will die Hauptstadt vom nun einsetzenden Flüchtlingsdruck entlasten. „Berlin kann das nicht alleine stemmen“, betont sie. „Wir wollen Leben retten. Das hängt nicht vom Paß ab“, bekräftigte sie später der Bild-Zeitung gegenüber. Ein Großteil der zur Zeit in Deutschland ankommenden Menschen seien ukrainische Staatsbürger. Sie versichert, es werde keine Obergrenzen für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen geben.

Laut Bundesinnenministerium sind bislang etwa 37.700 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland registriert worden. Da sie bei der Ankunft zunächst als Touristen gelten und sich nicht als Asylbewerber registrieren lassen müssen, dürfte die tatsächliche Zahl der in Deutschland aus dem Kriegsgebiet Geflüchteten deutlich höher sein. Zudem finden nur punktuell Kontrollen an oder hinter der deutsch-polnischen Grenze statt. Laut der Berliner Zeitung werden bereits bestehende Flüchtlingsunterkünfte in der Stadt geräumt, um Platz für die Neuankömmlinge zu schaffen. Deshalb häuften sich die Beschwerden unter den „alteingesessenen“ Migranten. Der Flüchtlingsrat in der Stadt teilte mit, die Aufnahmestrukturen vor Ort seien mittlerweile „total überlastet“. Zuletzt sind über 10.000 Flüchtlinge am Tag in Berlin angekommen.

Spannungen innerhalb der Diaspora in Deutschland

Aber auch in München und Hamburg kamen Ukrainer an. Die Hansestadt hat deshalb angefangen, ihre Messehallen für einen Zeitraum von zunächst sechs Wochen freizuräumen. Die Stadtverwaltung prüft eigenen Angaben zufolge außerdem weitere Standorte zur Unterbringung. In München wurde ein Schulgebäude zum Zweck der Flüchtlingsaufnahme umfunktioniert. Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) sprach in diesem Zusammenhang von einer „mächtigen Herausforderung“. Man stehe „noch vor der größten Ankunft“, warnte das Stadtoberhaupt.

Die Innenminister der EU-Mitgliedsstaaten hatten sich auch deswegen auf einen Sonderstatus geeinigt. „Das bedeutet konkret: Alle EU-Mitgliedsstaaten schaffen das gleiche, unbürokratische Verfahren zur Aufnahme von Kriegsflüchtlingen“, teilte das Bundesinnenministerium zu der Vereinbarung mit. Personen aus der Ukraine müßten ab sofort kein langwieriges Asylverfahren durchlaufen. Außerdem erhalten sie einen vorübergehenden Schutz in der EU für bis zu drei Jahre. Laut Schätzungen der Uno sind seit Ausbruch des Krieges schon über 1,5 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Migrationswissenschaftler rechnen mit der größten Flüchtlingswelle in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Wenn die russische Armee weiterhin ukrainische Städte bombardiere, müsse Europa sich auf rund fünf Millionen weitere Migranten einstellen, warnte der Außenbeauftragte der EU-Kommission, Josep Borrell.

In Deutschland ist Zahlen des Statistischen Bundesamts zufolge die russisch- und ukrainischstämmige Bevölkerung in den vergangenen Jahren ohnehin stark gewachsen. Die Zahl der hierzulande lebenden Russen kletterte in den letzten zehn Jahren um 33 Prozent auf 235.000 Menschen. Der Anteil der in Deutschland wohnenden Ukrainer stieg in der vergangenen Dekade um 21 Prozent auf 135.000 Personen an. Mit dem Ukraine-Krieg dürfte sich diese Zahl weiter erhöhen.

Die Einwanderer aus den ehemaligen Ostblockstaaten waren hierzulande lange Jahre eng miteinander verbunden. Fast jeder kennt beispielsweise die beiden Boxer Wladimir und Vitaly Klitschko, den Pianisten Igor Levit oder den Tennisspieler Alexander Zverev. Sie alle stammen entweder aus der Ukraine oder aus Rußland und stehen stellvertretend für die annähernd zwei Millionen Menschen in Deutschland, die aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion stammen. Über Jahrzente lebten sie friedlich in ihrer deutschen Diaspora zusammen. Gemeinsam ist ihnen die Erinnerung an Kindersendungen mit dem ulkigen Stofftierchen Tscheburaschka, an die alten Filme mit dem Komiker Juri Nikulin und an die merkwürdigen Auftritte der Musikerin Verka Serduchka.

Seit den Maidan-Protesten im Winter 2013/ 14 und der Annexion der Krim 2014 ist das Verhältnis zwischen Ukrainern und Russen allerdings auch in Deutschland angespannt. Die einen stehen zur Politik des russischen Präsidenten Putin, die anderen leben in erbitterter Opposition zu seinen Ambitionen. Den Einmarsch der russischen Streitkräfte vor zwei Wochen allerdings sahen die wenigsten kommen.

„Ich fühle Wut und Scham. Wut als Ukrainerin und Scham als Russin. Meine Eltern haben sich in einer Zeit kennengelernt, als russisch oder ukrainisch sein keine Rolle gespielt hat. Das würde ich mir momentan auch wünschen“, sagte etwa Valeriya Pugach aus München dem Focus. Ihrer Meinung nach kenne der Krieg nur Verlierer. Deshalb sei es jetzt wichtig, nicht zu verzweifeln und vor allem keinen Haß auf Russen im Westen zu schüren. „Wir verurteilen Putins Krieg, aber bitte verurteilt nicht uns!“, bat sie inständig.

Mit dieser Bemerkung trifft sie einen Nerv. Viele Russen in Deutschland sind derzeit nervös. Sie wissen nicht, ob der russische Angriffskrieg auf sie zurückfallen wird. „Natürlich trägt all dies zum negativen Ruf der Russen in der Welt bei“, erklärte ein anderer Russe, der ebenfalls in Bayern lebt. Noch vor ein paar Wochen sei dieser Krieg unvorstellbar für ihn gewesen. Er schäme sich furchtbar für das, was die russische Regierung gerade tue.

Im Schatten des russischen Einmarsches tragen sich unterdessen auch russenfeindliche Attacken in Deutschland zu. Laut Recherchen des SWR berichten inzwischen mehrere Landesinnenministerien von Sachbeschädigung, Vandalismus, verbalen Anfeindungen und körperlichen Angriffen gegen Russen. In den sozialen Netzwerken soll ein Drohbrief mit den Worten „Russenpack, haut endlich hier aus Deutschland ab!“ kursieren. Aus Berlin meldeten mehrere russische Restaurants Schmähanrufe. Der B.Z. zufolge seien dabei auch Sätze wie „Schade, daß Hitler es nicht geschafft hat, euch auszurotten“ oder „Ihr sollt verrecken“ gefallen. 

Darüber hinaus spitzt sich die Lage auch an deutschen Schulen immer weiter zu. So soll es in jüngster Zeit vermehrt zu Ausfällen russischen Schülern gegenüber gekommen sein. Berlins Schulsenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD) sah sich deshalb zu einer Klarstellung genötigt: „Kinder führen keine Kriege, kein Schulkind russischer Herkunft darf für die Verbrechen des Putin-Regimes haftbar gemacht werden.“ Auch die russische Botschaft hat in Deutschland lebende Russen inzwischen dazu aufgerufen, Angriffe und Drohungen zu melden.

Nicht alle Anfeindungen blieben indes unwidersprochen. So hatte beispielsweise das Gasthaus Traube in Bietigheim bei Stuttgart Gästen mit russischem Ausweis kürzlich die Bedienung verweigert. Auf Google wurde das Restaurant von Nutzern daraufhin kurzerhand in „Restaurant der Hetze“ umbenannt und als „dauerhaft geschlossen“ markiert. Die Ludwig-Maximilians-Universität verwahrte sich darüber hinaus gegen die Entgleisung einer an der Hochschule lehrenden Medizinprofessorin, die Medizintouristen aus Rußland wegen des „offenbar geistig gestörten Autokraten Putin“ die Behandlung verweigerte. Es handele sich bei den Äußerungen um „kein offizielles Statement“.

„Unser Feind ist nicht das russische Volk“

Politiker unterschiedlichster Couleur sprachen sich außerdem gegen russenfeindliche Ressentiments aus. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) beispielsweise mahnte den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland an. „Der Krieg in der Ukraine ist Putins Krieg. Wer Weißrussen oder Russen in Deutschland anfeindet, der greift nicht nur unsere Mitbürger an, sondern auch die Grundprinzipien unseres Zusammenlebens. Wir halten zusammen.“ 

Auch Unionsfraktionschef Friedrich Merz (CDU) verurteilte rußlandfeindliche Ausfälle. „Deutsche aus Rußland und in Deutschland lebende russische Staatsbürger sind ungerechtfertigten Anfeindungen ausgesetzt. Unser Feind ist weder das russische Volk, noch sind es Menschen, die sich ihm verbunden fühlen.“

Unterdessen rollt allen Widrigkeiten zum Trotz eine Welle der Hilfsbereitschaft durchs Land: Vereine sammeln Spenden zugunsten der Kriegsflüchtlinge, Hilfstransporte nach Polen werden organisiert. Der Welt zufolge sollen sich schon 350.000 Privatpersonen gemeldet haben, um Ukrainer bei sich zu Hause aufzunehmen. Und in Berlin haben sich mehr als 500 Ärzte und Psychotherapeuten bereit erklärt, die Neuankömmlinge kostenlos zu behandeln. 

Foto: Bundesinnenministerin Faeser (M.) und Berlins Regierende Bürgermeisterin Giffey (l.): „Hauptstadt kann das nicht alleine stemmen“