© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/22 / 11. März 2022

Das Paradies für Menschenschmuggler
Libysche Flüchtlingsroute: Der zerstörte Staat versucht Herr der Migrantenmassen zu werden
Marc Zoellner

Die afrikanischen Migrationsrouten nach Europa sind wieder stark frequentiert. Über 3.500 Migranten versuchten vergangene Woche den Grenzzaun zur spanischen Enklave Melilla zu überqueren. Rund 900 Personen konnten nach dem koordinierten Ansturm in die Autonome Stadt gelangen. Ebenso wie das Melilla umgrenzende Marokko bekämpft Libyen die Migration nach Kräften. Bereits am 10. Januar begann eine bis ins Detail geplante Operation: Libysche Sicherheitskräfte der „Abteilung zur Bekämpfung illegaler Migration“ (DCIM) sperrten mit gepanzerten Fahrzeugen umliegende Straßen ab, blockierten Gassen und Fußwege und begaben sich im Anschluß zur Verhaftung von über 1.000 Flüchtlingen. „Man erklärte uns, wir hätten zehn Minuten Zeit zu verschwinden“, berichtete Yambio David Oliver, ein 25jähriger Flüchtling aus dem Südsudan, nach der Erstürmung des Camps durch die libyschen Polizeitruppen auf seinem Twitter­account „Refugees in Libya“. „Andererseits würden sie uns in das Internierungslager nach Ain Zara bringen.“

Seit Oktober vergangenen Jahres hatten die Migranten vor dem Gebäude des UNHCR, des „Hohen Flüchtlingskommisssars der Vereinten Nationen“, in der libyschen Hauptstadt Tripolis kampiert. Zuletzt sah sich die zentrale Anlaufstelle der Hilfsorganisation, die noch im Dezember mehrere tausend Flüchtlinge mit Geld, Nahrung und medizinischen Bedarfsartikeln versorgte, aufgrund der anhaltenden Blockade zur offiziellen Schließung ihrer Einrichtung gezwungen. „Die Entscheidung fiel sehr schwer, da in dieser zentralen Anlaufstelle jeden Tag bis zu einhundertfünfzig Menschen geholfen werden konnte“, erklärte Caroline Gluck, Sprecherin der UNHCR in Libyen, Mitte Januar der Aktivistenplattform „InfoMigrants.net“. Notfallhilfen seien aber in anderen Vierteln bereitgestellt worden.

Insassen des Internierungslagers gehen in den Hungerstreik

Die Räumung des Flüchtlingscamps war bereits die zweite großangelegte Operation libyscher Sicherheitskräfte in der Hauptstadt. Im Oktober wurden im Westen der Stadt mehr als 4.000 Migranten verhaftet, die des Schmuggels von Drogen und Alkohol beschuldigt waren. Diese erste Verhaftungswelle resultierte in der Errichtung des Camps vor dem UNHCR-Gebäude. Campsvertreter forderten von der internationalen Staatengemeinschaft eine Erklärung ihrer Schutzbedürftigkeit sowie Ausreisemöglichkeiten in sichere Drittstaaten, vorrangig nach Europa.

Mit rund sieben Millionen Einwohnern zählt Libyen bevölkerungsanteilig zu den am härtesten von Flüchtlingswellen getroffenen Staaten der Welt: Die Zahl der Migranten im Land wird von Hilfsorganisationen auf über 600.000 geschätzt. Aufgrund seiner politischen Instabilität sowie der geographischen Lage gilt der nordafrikanische Ölstaat als bevorzugte Route für Menschenschmuggler und illegale Einwanderer nach Europa. Allein 2021 wurden von der libyschen Küstenwache über 32.000 Migranten aus den Küstengewässern gefischt und zurück an Land gebracht. „Die Immigrationsfrage zehrt erheblich an den ökonomischen und Sicherheitsressourcen unseres Landes“, mahnte Libyens Außenministerin Nadschla al-Mangusch Mitte Januar während einer Besichtigung des Internierungslagers von Ain Zara, dessen Insassen sich mittlerweile seit Anfang Februar im Hungerstreik gegen die Haftbedingungen befinden.

Seit Beginn des Bürgerkriegs im Mai 2014, der im Oktober 2020 mit einem Waffenstillstand der relevantesten Konfliktparteien sowie anschließenden Verhandlungen über eine Einheitsregierung endete, ist Libyen de facto dreigeteilt: Die im Westen gelegene Region Tripolitanien wird von der militärisch schwachen – von der Moslembruderschaft und der Türkei unterstützten – „Regierung der Nationalen Übereinkunft“ (GNA) kontrolliert. In Tobruk hält der über die östliche Region Cyrenaika regierende „Abgeordnetenrat“ seinen Amtssitz. Dieser erfährt Unterstützung großer Teile der „Libyschen Nationalen Armee“ (LNA) unter Feldmarschall Khalifa Haftar, welcher in den kommenden, vom 24. Dezember 2021 auf unbestimmte Zeit verschobenen Präsidentschaftswahlen als aussichtsreichster Kandidat gilt und in diesen unter anderem gegen Saif al-Islam Gaddafi, den Sohn des 2011 gestürzten libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi, antritt.

Im südlichen Fessan jedoch, einer wüstenreichen Region, konnten sich seit 2011 keine staatlichen Strukturen mehr etablieren. Der Fessan wie auch die südliche Cyrenaika gelten als Rückzugsgebiet von Kriminellen und Extremisten wie dem IS, al-Qaida oder Boko Haram sowie Einheiten der Tuareg-Separatisten aus Niger und Mali, Rebellen aus dem Tschad oder schwarzafrikanischer Menschenschmugglerbanden.

Für alle stellen die aus der Sahelzone über die libysche Wüste nach dem Mittelmeer reisenden Flüchtlingsströme ein äußerst lukratives Geschäft dar. Die libysche Armee hat keine Mittel, das Gebiet zu überwachen und Migranten aufzuhalten. „Die libyschen Wüsten sind riesig und brauchen eine große Armee, um diese Grenzen zu überwachen“, erklärte der örtliche Journalist Youssef Al-Zawawi der Nachrichtenagentur „Reuters“. „Die libyschen Behörden werden mit ihren derzeitigen Fähigkeiten nicht in der Lage sein, diese Banden allein zu bekämpfen.“ 

Derweil treiben die Konflikte in der Subsahara täglich weitere Menschen nach Norden. Allein die gut 16 Millionen Einwohner des Tschad zählen seit Jahrzehnten zu den ärmsten Welt. Etwa achtzig Prozent der Bevölkerung müssen mit umgerechnet weniger als einem US-Dollar pro Tag haushalten. Doch trotz bitterer Armut sowie einem blutigen Konflikt um die Macht im Land, dem im April 2021 der langjährige Diktator Idriss Déby zum Opfer fiel (JF 18/21), beherbergt der Tschad mittlerweile mehr als eine Million Binnenvertriebene aus Nachbarstaaten, darunter neben rund 400.000 Sudanesen auch 36.000 Kameruner. Seit Dezember vergangenen Jahres zählt auch Martin Assinga zur rapide anwachsenden Gruppe seiner flüchtenden Landsleute. 

„In Kamerun war ich Wildhüter“, berichtete der junge Familienvater im Januar dem UN-Informationsportal „ReliefWeb“. „Damit konnte ich meine Familie ernähren und zur Entwicklung meines Dorfes beitragen.“ Am 5. Dezember allerdings brachen in seiner Heimat Streitigkeiten zwischen Bauern und Viehzüchtern um Wasserzugangsrechte aus, die rasant in einem Waffenkonflikt zwischen verschiedenen Ethnien eskalierten, in dessen Folge über einhundert Dörfer gebrandschatzt sowie Dutzende Einwohner ermordet wurden.

Hunderttausende vertriebene Sudanesen, Kameruner, Nigrer

Zur Unterstützung dieser im Tschad gestrandeten Flüchtlinge ersuchte der UNHCR im Januar seine Mitgliedsstaaten um zusätzliche 60 Millionen US-Dollar für die kommenden sechs Monate. Von diesen Hilfsgeldern möchte Assinga sich nicht abhängig machen. „Ich brauche nur eine Wasserpumpe und ein Stück Land“, erklärt er stolz. Auch sein Landsmann Issa Hassane beharrt lieber auf wirtschaftlicher Selbständigkeit anstelle der Abhängigkeit von Hilfsorganisationen. „Ich repariere Mobiltelefone sämtlicher Marken“, verweist der 25jährige Technikbegeisterte stolz auf seine Tagesverdienste von bis zu zweieinhalb US-Dollar – fast schon ein Mittelklasseeinkommen im Tschad. 

Ob beide den beschwerlichen Weg nach Europa wagen würden, mag angesichts jener Umstände bezweifelt werden, daß die Sahara für Flüchtlinge, die sich die Dienste von Schmugglern finanziell nicht leisten können, als Todespfad gilt. Die „Internationale Organisation für Migration“ (IOM) schätzt für die vergangenen Jahre, daß in der Sahara mehr als doppelt so viele Flüchtlinge starben wie im Mittelmeer. Dementsprechend teuer lassen sich Menschenschmuggler ihre Dienste versilbern. Deren Jahreseinkommen wird von der IOM auf 50 Millionen US-Dollar geschätzt.

Verirrte Flüchtlinge in den Weiten der Sahara aufzufinden, stellt nicht zuletzt aufgrund marodierender Banden von Islamisten und Kriminellen eine nur schwer zu bewältigende Aufgabe dar. Trotz alledem gelang der IOM allein in den ersten drei Jahren seit Bestehen ihrer Mission vom April 2016 an die Rettung von über 20.000 Migranten. Seit November 2017 unterhält der Niger, eines der wichtigsten Transitländer für Migration durch die Sahara, mit Libyen überdies ein „Emergency Transit Mechanism“ (ETM) getauftes Abkommen, welches die Rückführung von Flüchtlingen der Subsahara aus libyschen Internierungslagern auf nigrischen Boden vorsieht. Das vom „EU Emergency Trust Fund for Africa“ (EUTF) mit 30 Millionen Euro geförderte Projekt konnte bis zum Sommer 2021 fast 3.500 in Libyen inhaftierte Migranten zurückfliegen.

Libyens Behörden, die sich von Europa in der Flüchtlingsfrage allein gelassen fühlen, bewerten innerafrikanische Kooperationen wie jene mit ihrem nigrischen Nachbarn als Schritt in die richtige Richtung; auch um sich selbst von ihrer Abhängigkeit von internationalen Organisationen zu lösen, welche im innerlibyschen Diskurs für reges Konfliktpotential sorgen. So bezichtigte zuletzt der „Libysche Nationale Rat für Bürger- und Menschenrechte“ (NCCHR) den UNHCR, in der Flüchtlingskrise die momentane politische Schwäche der libyschen Regierung zugunsten illegaler Migranten auszunutzen. Dessen Arbeit sei demzufolge illegal. Libyen habe nie die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet und würde auch in Zukunft seine Unterschrift unter das Dokument verweigern, da ansonsten „dramatische Veränderungen in der demographischen Struktur hervorgerufen werden, durch welche die Libyer zur Minderheit in ihrem eigenen Land werden“, so der NCCHR.

Foto: Ein Holzboot bei der Überfahrt über das Mittelmeer: Die libyschen Wüsten sind riesig und kaum zu überwachen