© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/22 / 11. März 2022

Sanktionen werden zum Bumerang
Rohstoffmärkte: Rußland war nicht nur ein entscheidender Energielieferant, auch bei wichtigen Industriemetallen drohen zunächst Lieferunterbrechungen und Preissprünge
Thomas Kirchner

Im Herbst 2008 waren sich die US-Behörden einig, man brauche Lehman Brothers nicht zu retten, weil eine Pleite keine größeren Auswirkungen auf das Finanzsystem haben werde. Es kam bekanntlich anders. Heute wird erstmals in der Nchkriegsgeschichte eine Volkswirtschaft aus der Gruppe der G20-Staaten aus der Weltökonomie verbannt. Politik, Presse und akademische Fachleute sind eindimensional auf Auswirkungen im Energiesektor fokussiert. Ging der Ausschluß kleinerer Entwicklungsländer wie Venezuela oder Iran ohne größere Reibungsverluste vonstatten, drohen die Rußland-Sanktionen zum Bumerang zu werden. Lieferketten stehen ohnehin unter Spannung, jetzt werden auch noch Rohstoffe real knapp.

Alle Augensind auf Erdgas gerichtet, bei dem Rußland sechs Prozent der weltweiten Förderung liefert. Weniger Beachtung finden andere Rohstoffe, bei denen das Putin-Reich einen manchmal noch höheren Anteil am Weltmarkt fördert als bei Gas. Aluminium stammt ebenfalls zu sechs Prozent aus Rußland. Der Preis stieg seit Dezember um 50 Prozent auf ein neues Rekordhoch. Trotz der hohen Preise sollen Aluhütten im Westen wegen der gestiegenen Gaspreise weiter mit Verlust arbeiten.

Weitere Preissteigerungen und Inflation bei Endprodukten von Autos bis Verpackungen stehen also an. Bei Nickel, neuerdings auch nachgefragt für Akkus für Elektromobilität, sind es auch wieder sechs Prozent, die aus Rußland stammen, der Preis liegt 150 Prozent höher als im Dezember. Richtig ernst wird es bei Palladium, das zu 45 Prozent aus Rußland stammt. Seit Mitte Dezember hat sich der Preis mehr als verdoppelt. Die Edelmetalle Platin und Gold sind Ausnahmen: Zwar stammen 15 bzw. neun Prozent der Förderung aus Rußland, aber die Preise hinken anderen Metallen hinterher. Der Goldpreis lag in den Tagen nach der Invasion immer noch rund zehn Prozent unter seinem vorherigen Höchstkurs von 2020, Platin ist nach wie vor nur halb so teuer wie in der Spitze 2008. Hohe Lagerbestände dieser Edelmetalle können Produktionsausfälle kompensieren.

Die USA und Kanada können nur mittelfristig mehr Erdgas liefern

Metalle haben mit Energie eines gemeinsam: Die russischen Fördermengen können nicht schnell ersetzt werden. Es gibt kaum ungenutzte Kapazitäten. Dementsprechend geht es in vielen derzeitigen Debatten nur um Scheinlösungen. Weltweit kommt Steinkohle zu 18 Prozent aus Rußland, bei europäischen Importen sind es sogar 49 Prozent. Als Mitglied von OPEC+ ist Rußland mit 11,4 Prozent zweitgrößter Ölexporteur nach Saudi-Arabien (17,1 Prozent Marktanteil). Der Markt ist ohnehin schon eng: Für sofortige Lieferung kostet Öl derzeit etwa zehn Dollar pro Barrel mehr als für Lieferung im Juli, ein höherer Aufschlag als je zuvor. Ein Ausfall Rußlands als Lieferant ist praktisch undenkbar.

Ein Drittel des europäischen Erdgases kam bisher aus Rußland – Flüssiggas (LNG) wird als Alternative gepriesen, um künftig die Versorgung sicherzustellen. Die bestehenden Häfen in der EU sind nicht ausgelastet, es könnten also höhere Importe abwickeln. Aber Katar, mit 27 Prozent Anteil größter LNG-Exporteur der Welt, hat bereits mitgeteilt, keine zusätzlichen Kapazitäten für Europa übrigzuhaben. 71 Prozent der Exporte sind an langfristige Lieferverträge mit Asien vergeben. Australien ist mit 22 Prozent Marktanteil Nummer zwei, hat aber die längstmöglichen Transportwege. Nordamerika hat viel Erdgas und könnte zum größten Exporteur werden. Die meisten US-Flüssiggasexporte gehen derzeit bereits nach Europa.

Doch dann gibt es ein weiteres Problem: es hapert am Transport. 340 große LNG-Tanker tuckern derzeit über die Ozeane. Die Flotte wird in den nächsten zwei Jahren nur geringe Zuwächse haben: Obwohl Werften fast 100 Tanker liefern werden, müssen allein neuer Umweltanforderungen wegen ein paar Dutzend ausgemustert werden, altersbedingt ein paar Dutzend mehr.

Kurzfristig mehr zu importieren geht also nur, wenn man anderen Ländern die Kapazitäten wegschnappt. Es wäre ein Verdrängungswettbewerb, bei dem das wohlhabende Europa ärmeren Ländern gegenüber natürlich bessere Karten hätte. Nur will das niemand zugeben. Außerdem mag das die Abhängigkeit von Rußland verringern, schafft aber neue Schwachstellen: In einem Konfliktfall wäre es leichter, LNG-Frachter im Atlantik zu versenken, als eine Pipeline in der Ostsee zu beschädigen.

Die Lehman-Bilanzsumme war ungefähr genauso groß wie die eingefrorenen 600 Milliarden Dollar des russischen Staatsfonds. Auswirkungen der Sanktionen auf Finanzmärkte blieben aus, auch weil EU-Sanktionen drastisch reduziert wurden, nachdem Österreichs Einlagensicherungsfonds mit fast einer Milliarde Euro für die insolvente Filiale der Sberbank habe einspringen müssen. Doch bloß weil die Finanzmärkte noch einmal Glück hatten sollte man nicht folgern, daß alles glattläuft: Rohstoffmärkte ticken langsamer als Finanzmärkte. Die Auswirkungen des Wegfalls eines der größten Lieferanten sind unabzusehbar. Fest steht aber: Nebeneffekte wie einst bei Lehman wird es geben.

Rohstoffbörse für Industriemetalle: www.cmegroup.com

Foto: Öltank des russischen Konzerns Rosneft in der Samara-Region: Inflation bei zahlreichen Endprodukten