© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/22 / 11. März 2022

Illusionen über die Reichweite sprachlicher Aushandlung
Wallraff contra Habermas
(ob)

Als „Enthüllungsjournalist“ zählte Günter Wallraff, der in diesem Jahr auf seinen 80. Geburtstag zusteuert, zu den festen Größen der westdeutschen Literaturszene. „Der Aufmacher“, die Undercover-Story aus dem Innenleben der Bild-Zeitung, hat ihn 1977 bekannt, „Ganz unten“ (1985), die bis heute vier Millionen Mal verkaufte Sozialreportage über seine trüben Erfahrungen als „türkischer“ Gastarbeiter Ali, hat ihn reich gemacht. Als 2009 der schlecht geschminkte, unter einer Afro-Perücke verborgene Wallraff mit seinem Dokumentarfilm „Schwarz auf weiß“ an diese Erfolge anzuknüpfen versuchte, indem er den „Alltagsrassismus“ der Merkel-Republik anprangerte, wurde seine früher so hochgelobte „Gesellschaftskritik“ glatt ignoriert. Stattdessen geriet der „Aufklärer“ wegen „Blackfacing“ als „Rassist“ selbst auf die Anklagebank. Für den US-Germanisten Michael Lipkin offenbarte sich in diesen harschen Reaktionen ein Strukturwandel der Öffentlichkeit, der sich in den 1980ern bereits ankündigte. Trotz enormer Resonanz habe nämlich nicht „Ganz unten“, das den „Arbeitsplatz als Zentrum der Entmenschlichung in der kapitalistischen Gesellschaft“ thematisiert, bis heute die Wirklichkeits- und Selbstwahrnehmung der Bundesdeutschen geformt, sondern die fast gleichzeitige „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981) von Jürgen Habermas. Nicht Wallraffs Erfahrung, daß „unverfrorene Lüge die gesamte Kommunikation der kapitalistischen Massendemokratie“ durchziehe, sondern Habermas’ illusionärer Glaube an die Sprache als Instrument zur „Aushandlung gemeinsamer Werte“ gehöre seitdem zur deutschen „Leitkultur“ (Merkur, 2/2022). 


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