© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/22 / 11. März 2022

Unterwegs mit der Peinsack- polonaise
„Mehr Fortschritt wagen“: Ein Ausflug in das literarische Milieu der 1970er Jahre
Oliver Busch

Böll – Grass – Lenz. Auf seinen Pawlowschen Reflex kann sich verlassen, wer nach den drei marktbeherrschenden Autoren der alten Bundesrepublik gefragt wird. Trotzdem überrascht nicht, daß deren Glanzzeit jetzt, ein halbes Jahrhundert später, in der Rückschau von Helmut Böttigers Literaturgeschichte der 1970er Jahre, nicht auf deren Namen zusammenschnurrt. Aber daß Siegfried Lenz darin gar nicht vorkommt, Heinrich Böll, der Nobelpreisträger von 1972, als eher peinlicher Typ erscheint und bei Günter Grass, dessen „Blechtrommel“ (1959) für Böttiger kurioserweise im „Weichseldelta bei Danzig“ spielt, das Image vom „Oberlehrer und Leitartikler“ das Ansehen des ebenfalls mit dem Literaturnobelpreis gekrönten Autors seit langem verdunkelt, verblüfft denn doch.

Für die Schriftsteller, nicht die politisierenden Manifestanten, Böll und Grass bricht der Literaturwissenschaftler Böttiger gleichwohl eine Lanze. „Der Butt“ (1977) zeugte nochmals von Grass’ im Welterfolg „Die Blechtrommel“ entfalteter Sprachmacht, und mit der Hommage an die Gruppe 47, dem „kunstvoll verdichteten Kammerspiel“ „Das Treffen in Telgte“ (1979), sei ihm eines „der schönsten Bücher dieses Jahrzehnts überhaupt“ gelungen. Das mag stimmen, wird aber ästhetisch nicht hinreichend begründet.

Dem Zeitgeist der Willy-Brandt-Ära auf der Spur

Hier offenbart sich eine prinzipielle Schwäche dieser Literaturgeschichte, die Dutzende von Werken aus dem „sozialliberalen Jahrzehnt“ präsentiert, aber – von einem brillanten Porträt Peter Handkes abgesehen – zumeist über Inhaltsangaben nicht hinauskommt und ihren künstlerischen Wert oder Unwert nicht zu taxieren weiß. So ist denn auch „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (1974), Bölls von Böttiger hochgelobter Versuch, den Terrorismus der Baader-Meinhof-Bande und die Reaktionen einer von der „faschistischen“ Bild-Zeitung aufgepeitschten Öffentlichkeit darzustellen, für ihn zwar ein „Meilenstein politischer Literatur in Deutschland“. Aber eben, so lautet die stille Botschaft, kein episches Meisterwerk.

Diese Romanlektüre lohnt daher lediglich für Historiker, die dem Zeitgeist der Willy-Brandt-Ära auf der Spur sind. Insoweit schließt sich Böttiger der Demontage der literarisch-moralischen Instanz Böll an, die Rainald Goetz 1983 einleitete, indem er den „guten Menschen von Köln“ als Anführer einer „Peinsackpolonaise“ verspottete, die ständig jenen „geistigen Schlamm und Schleim absondert“, den ihr „Weltverantwortungstum, das Wackertum, unaufhörlich produziert“. Ähnlich mokierte sich Eckhard Henscheid über das „ewige Pfaffentum“ dieses Milieus, das der „Gutmensch“ Böll wie kein anderer verkörperte. Diese „Peinsackpolonaise“ tanzte mit den grünen Weltrettern, deren Parteistiftung Bölls Namen trägt, 1983 in den Bundestag und ist heute mit dem politisch-medialen Komplex der Berliner Republik nahezu identisch.

Wieder und wieder klagt Böttiger, daß sich ein „einheitliches Bild“ der siebziger Jahre aus ihrer Literatur leider nicht zusammensetzen lasse. Zumal wenn man, wie hier geschehen, die DDR, die Schweiz und Österreich quasi großdeutsch integriert. Was hat die „Auseinandersetzung mit den Nazivätern“ bei Hermann Peter Piwitt, Bernward Vesper und Christoph Meckel mit der „Frauenliteratur“ heute vergessener Autorinnen wie Karin Struck („Klassenliebe“, 1973), Verena Stefan („Häutungen“, 1975) oder Brigitte Schwaiger („Wie kommt das Salz ins Meer“, 1977) zu tun? Worin ist das Gemeinsame der seit 1970 aufblühenden, den Raubdruck perfektionierenden linken Kleinverlagsszene und der von Drogen und Alkohol befeuerten, von der US-Subkultur faszinierten „Das Leben ist sinnlos“-Prosa eines Jörg Fauser?

Wo treffen sich der jüngst verstorbene Klaus Wagenbach, dessen Verlag sich als Woolworth des linken Literaturbetriebs etablierte, und der DDR-Dramatiker, Ernst-Jünger-Verehrer und Zyniker Heiner Müller? Böttigers Materialsammlung antwortet auf diese Fragen nicht. Sie kündet allein vom respektablen Lektürepensum des umtriebigen linksliberalen Literaturkritikers, nicht jedoch von seiner analytischen Potenz.

Böttigers Unvermögen resultiert nicht zuletzt aus der mangelnden persönlichen und weltanschaulichen Distanz des 1956 geborenen Verfassers, der als Germanistik-Student in der badischen Post-68er-Filiale Freiburg sozialisiert wurde. Daß „Einheit“ nicht herzustellen, die dafür nötigen Proportionen nicht abzuschätzen vermag, wer viel Raum auf allzu häufig von ihm schon traktierte „Lieblingsdichter“ wie Ingeborg Bachmann, Paul Celan und Uwe Johnson verschwendet, leuchtet ein. Und wer sich selbst bei denen mit hohlen Feuilletonphrasen wie „unauslotbares, geheimnisvolles Erzählwerk“, „Zeit-Mosaik von politisch-aufklärerischem Rang“ (so über Johnsons „Jahrestage“) oder „Literatur als existentieller Gegenentwurf“ gegen eine „Welt der Mediokrität und Perfektion“ (über Bachmann und Celan) begnügt, bleibt bis Oberkante Unterlippe hilflos im Morast jenes damals entstandenen und gegenwärtig totalitär triumphierenden „Wackertums“ stecken.

Es ist daher kein Zufall, wenn Böttigers kurzes Verzeichnis der zu Rate gezogenen Sekundärliteratur nur die von dem Freiburger Zeithistoriker Sven Reichardt mit editierte Aufsatzsammlung über „Antibürgerlichen Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983“ (2010) auflistet, nicht aber dessen 1.000seitiges Standardwerk zum Thema („Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren“, 2014), das ihm einen literatursoziologischen Brückenschlag zu der so kraß vernachlässigten Politik- und Sozialgeschichte der Siebziger ermöglicht hätte.

Die Sackgassen führten in vulgären Konsumismus

Immerhin liefern die 27 Kapitel des Buches soviel Stoff, daß sich der Leser daraus selbst ein „einheitliches Bild“ der Epoche zusammenfügen kann. Im Zentrum stünde dabei die literarische Verarbeitung des nach 1968 bald gescheiterten Generationenprojekts „Erziehung zur Mündigkeit“ (Adorno) als Voraussetzung für eine den Kapitalismus überwindende Demokratie, die an der „Selbstbestimmung der Menschheit arbeitet“ (Habermas). Der Katzenjammer des „unglücklichen Bewußtseins“ (Hegel), den die meisten ohne politische Urteilskraft fabrizierten Texte frustrierter und perspektivlos gewordener 68er-Literaten prägt, ist die Konsequenz solcher ideologischen Narreteien. Nicht einmal das Glück der kleinen „Entgrenzungen“ mittels „sexueller Emanzipation“ oder, noch schlichter, „ekstatischer Augenblicke“ jenseits des „entfremdeten“ Daseins, verheißen von Rock und Pop, so resümiert selbst Böttiger, sei ihnen beschieden gewesen: Die Pfade in die „Selbstverwirklichung“ entpuppten sich schnell als Sackgassen, die direkt in vulgären Konsumismus hineinführten.

Die Freiheit, die blieb, war die Freiheit der Wahl zwischen Aldi und Edeka, ARD und ZDF. Und aktuell zwischen 76 Geschlechtern. Gleichwohl erwiesen sich, von Böttiger nur zart angedeutet, die „politkulturelle Grundstimmung“, die literarisch gespiegelten und reproduzierten Denk- und Wahrnehmungsweisen, Werthorizonte und Lebensstile des 1980 auf bis zu 600.000 Aktivisten und 5,6 Millionen Sympathisanten bezifferten linksalternativen Milieus als erstaunlich stabil. Auf diesem Fundament nahm die Partei der Grünen den nächsten Anlauf zu „Mehr Fortschritt wagen“ und Weltrettung made in Germany.

Helmut Böttiger: Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur. Wallstein Verlag, Göttingen 2021, gebunden, 473 Seiten, Abb., 32 Euro