© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/22 / 11. März 2022

Wir sind die Ukraine!
Boykotte, Löschungen, Entlassungen: Seit Putins Krieg gegen die Ukraine gerät alles Russische unter Generalverdacht
Thorsten Thaler

Eine Szene von hoher Symbolik: der tote Held Siegfried, eingehüllt in eine ukrainische Flagge, Brünnhilde trauert, umringt von Komparsen in Militäruniformen. In der letzten Aufführung von Richard Wagners „Götterdämmerung“ vorvergangenen Sonntag am Königlichen Opernhaus von Madrid gedenkt das künstlerische Produktionsteam mit diesem Bild der Opfer des russischen Angriffkrieges auf die Ukraine.

„Der emotionalste Moment in diesem ‘Ring’ ist der, wenn Siegfried, die Hoffnung der Welt, durch Verrat ermordet wird, und zwar hinterrücks. Und deswegen wollten wir genau an dieser emotionalsten Stelle ein Zeichen der Solidarität mit unseren Brüdern und Schwestern in der Ukraine setzen“, erklärte Star-Tenor Andreas Schager, der den Siegfried verkörperte, im Gespräch mit der österreichischen Nachrichtenagentur APA. Bei der Solidaritäts- und Protestaktion habe es sich um eine gemeinsame Initiative der Darsteller und Künstler gehandelt, die unter Dirigent Pablo Heras-Casado und den Regisseuren Robert Carsen und Patrick Kinmonth den vierteiligen „Ring des Nibelungen“ auf die Bühne des Teatro Real brachten.

Inzwischen hat das Opernhaus auch die für Mai vorgesehenen sechs Gastauftritte des Moskauer Bolschoi-Theaters abgesagt, obwohl sich der Generaldirektor des weltberühmten Theaters, Wladimir Urin, gegen den Krieg ausgesprochen habe, wie die Madrider Oper vorigen Freitag mitteilte.

Wer schweigt oder untätig bleibt, macht sich verdächtig

Es ist eine von inzwischen unzähligen Formen des Protests aus Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport, Wissenschaft und Medien, nicht zu vergessen die „Zivilgesellschaft“ mit Demonstrationen und Glockengeläut, gegen Putins Krieg. Motto: Wir alle sind die Ukraine! Reiht euch ein, niemand darf mehr abseits stehen. Wer schweigt oder untätig bleibt, macht sich verdächtig. Dabei mehren sich die Aktionen, die – jenseits echter wirksamer Sanktionen – vor allem symbolträchtig sind und hauptsächlich die eigene Moral herausstellen sollen. Jüngste Beispiele: Katzen russischer Züchter dürfen laut einer Entscheidung des in Luxemburg ansässigen Katzenzuchtverbandes Fédération International Féline (FIFe) nicht mehr an internationalen Zuchtausstellungen teilnehmen. Und das Pariser Wachsfigurenkabinett Musée Grévin hat aus Protest gegen den Ukraine-Krieg die Statue des russischen Präsidenten Putin entfernt.

Hierzulande nehmen große Handelsketten russische Lebensmittel aus ihrem Sortiment. Die Drogeriekette Rossmann entfernt nach eigenen Angaben mehr als 150 Produkte aus ihren Regalen. Diverse Sportverbände (Fußball, Handball, Basketball, Eishockey, Badminton etc. pp.) schließen Rußland von Wettbewerben aus. Behinderte Athleten dürfen nicht an den Paralympics teilnehmen. Die Firma Playmobil will ihre Produkte nicht mehr nach Rußland liefern. Disney, Sony Pictures und Warner zeigen ihre Filme bis auf weiteres nicht mehr in russischen Kinos. Die Frankfurter Buchmesse und die Stiftung Preußischer Kulturbesitz haben ihre Beziehungen zu Rußland auf Eis gelegt. Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. 

Keine Frage, es herrscht de facto ein Bekenntniszwang, allzumal im Kulturbetrieb. Da entläßt der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) den seit 2015 trotz der im Jahr zuvor erfolgten Annexion der Krim amtierenden russischen Chefdirigenten seiner städtischen Philharmoniker, weil der als Putin-Vertrauter geltende Valery Gergiev sich nicht zum Ukraine-Krieg äußern will. Merkwürdig: 2018 hatten sowohl die Münchner Philharmoniker als auch der Stadtrat einer Vertragsverlängerung zugestimmt. Sie sei „für uns ein Glücksfall“, sagte Reiter damals.

Auch Anna Netrebko, weltweit gefeierte russische Opernsängerin, kassiert derzeit eine Auftrittsabsage nach der anderen, weil sie ebenfalls als Putin-Unterstützerin verortet wird. Dabei hatte die Sopranistin jüngst auf Instagram gepostet: „Ich möchte, daß dieser Krieg aufhört und daß die Menschen in Frieden leben können. Das erhoffe ich mir, und dafür bete ich.“

Es ist ganz offensichtlich nicht einfach, sich in diesen Zeiten mitzuteilen und den richtigen Ton zu treffen. „Die Atmosphäre gefriert. Es wird schwieriger, seine Meinung zu äußern, man fühlt sich umzingelt von Inquisitoren“, sagt der Chefredakteur der Schweizer Weltwoche, Roger Köppel. Man fühle sich „beobachtet, beäugt und getraut sich kaum, irgend etwas zu sagen, denn jedes falsche Wort könnte einem derart im Munde umgedreht werden mit der größtmöglichen Schadenswirkung“.