© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/22 / 11. März 2022

Magie der Stille
Kino: In dem Dokumentarfilm „Der Schneeleopard“ darf die Seele endlich tun, was ihr viel zu selten vergönnt ist: ruhen
Dietmar Mehrens

Der Mensch ist ausgestoßen aus dem Goldenen Zeitalter, in dem Mensch, Tier und Gott noch dieselbe Sprache sprachen.“ Das ist eine der vielen Empfindungen, die sich bei Vincent Munier und Sylvain Tesson einstellen, wenn sie in die Welt eintauchen, in der der Naturfotograf Munier zu sich findet: Es ist die ferne Welt des Himalaya, der Gegend auf unserem Globus, in der die Erde dem Himmel am nächsten kommt und die zugleich am weitesten entrückt ist von dem, was die Menschheit aus ihr gemacht hat. Denn in der kargen Wildnis des Hochgebirges gibt es für den Menschen wenig zu holen. Er ist hier nur ein Nebendarsteller. Einzig ein paar Nomaden mit ihren Yaks finden sich in den sauerstoffarmen Gebieten des tibetischen Hochlands zurecht und leben in einer Harmonie zusammen, nach der Munier sich sehnt. „Null Respekt für das Leben“ haben seiner Ansicht nach die Menschen jener fernen Trubelwelt, die er verächtlich „Marionettentheater“ nennt. 

„Magisch!“, staunen die Männer in Anbetracht der überwältigenden Naturkulisse, in der sie sich von einem Basislager im Tal aus auf die Suche gemacht haben nach dem wegen seiner Seltenheit fast schon mythischen Schneeleoparden. Unterwegs gibt es eine Reihe faszinierender anderer Tiere zu entdecken: Füchse, Rens, Blauschafe und vor allem die geheimnisvoll griesgrämig dreinblickende Pallaskatze, auch bekannt als Manul.

Kontemplative Bilder von überwältigender Schönheit

Tiere öffnen eine Tür zu dem, was sich menschlicher Kommunikation entzieht, heißt es an einer Stelle des Dokumentarfilms. Die Dialoge der beiden Männer ergänzen im Off gesprochene Textpassagen aus dem Buch „La Panthère des neiges“ (2019), das Sylvain Tesson über die gemeinsame Reise mit Munier schrieb und das sowohl in Frankreich als auch in Deutschland ein Überraschungserfolg war: Die Leser fanden sich magisch angezogen von dem meditativen Ton, den  Tesson bei der Niederschrift seiner Erlebnisse fand, von diesen „Exerzitien der Einsamkeit und Stille“, wie der Rezensent der JF das Werk beschrieb (JF 16/21). Die eigentümliche Atmosphäre des Staunens und der Andacht haben Marie Amiguet und Vincent Munier nun mit kontemplativen Bildern von monumentaler Schönheit und der Musik von Warren Ellis und Nick Cave in das Medium Film überführt. Ein Wagnis, denn äußere Handlung gibt es in dem Buch kaum: Die meiste Zeit liegen die beiden Männer auf der Lauer, müssen sich von Schnee einrieseln lassen oder installieren eine Fotofalle in der Hoffnung, das scheue Wildtier möge hineintappen.

Vincent Munier ist ein Abenteurer, wie er im Buche steht, eine Art französischer Arved Fuchs. Seit der dreifache „BBC Wildlife“-Fotograf des Jahres den Schneeleoparden in einer Abenteuergeschichte des Amerikaners George Schaller entdeckt hat, ist er fasziniert von dem Wildtier. 2011 reiste er erstmals nach Tibet. Weitere Expeditionen folgten. Normalerweise ist Munier dabei allein. Was bewog ihn, den Schriftsteller Sylvain Tesson auf eine seiner Expeditionen ins Tierreich mitzunehmen und daraus dann auch noch einen Film zu machen? Einerseits die neue Sichtweise, die ein Literat in das Thema einer ebenso einzigartigen wie bedrohten Fauna einzubringen vermag; dann sei es ihm aber auch darum gegangen, erklärt Munier, „den Austausch zwischen ihm und mir über denselben Traum zu filmen, aus verschiedenen Perspektiven, und dabei die Tierbilder zu zeigen“.

Daß auf der Pirsch alles glatt- und das scheue Tier ihnen tatsächlich vor die Linse laufen würde, war absolut nicht ausgemacht. Bei Tierfilmen führt oft der Zufall Regie. Bis zum Schluß darf also auch der Zuschauer dieses berückenden Dokumentarfilms mit den beiden Männern mitfiebern. Munier: „Das Aufspüren ist das Spannendste: Spuren suchen, Hinweise lesen, lange Tage mit dem Fernglas vor den Augen verbringen.“ Am Ende, so der Fotokünstler, laufe es darauf hinaus, daß man sich als Mensch dem Schneeleoparden angleicht: „Er zwingt uns, uns ein bißchen wie er zu verhalten, uns zu verstecken, uns zu tarnen, nicht aufdringlich zu sein ... Das ist es, was er uns beibringt.“ Sylvain Tesson war von der Naturverbundenheit seines Reisegefährten sichtlich beeindruckt, vor allem von der Art und Weise, wie er die Landschaft betrachtete: „Er las sie, wie man ein Gedicht liest.“

Geduld, Kontemplation, Staunen vor der Größe und Erhabenheit der Schöpfung: das sind die Tugenden, die (wie das gleichnamige Buch von Sylvain Tesson) „Der Schneeleopard“ preist, dessen zuweilen schwermütig wirkende Langsamkeit vielleicht am ehesten vergleichbar ist mit Philip Grönings Klosterpanorama „Die große Stille“ von 2005. Nur daß diesmal Nomaden die Mönche sind, die Natur das Kloster und der Ansitz das Gebet. 

Einen „Film von überwältigender Schönheit“ verspricht der Verleih den Zuschauern. Stimmt.

Der Kinostart ist am 10. März 2022

 www.mfa-film.de