© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/22 / 11. März 2022

Ein erhabener Witzbold
Geburtshelfer der Frühromantik: Zum 250. Geburtstag des Kulturphilosophen und Schriftstellers Friedrich Schlegel
Florian Werner

Meine Erklärung des Worts ‘Romantisch’ kann ich Dir nicht gut schicken, weil sie – 125 Bogen lang ist“, schrieb Friedrich Schlegel 1797 aus Jena in einem Brief an seinen Bruder Wilhelm August. Diese skurrile Antwort enthüllt nicht nur den sonderbaren Humor des Philosophen, sondern gewährt auch tiefe Einblicke in dessen Denken. Der am 10. März 1772 in Hannover geborene Schlegel war nicht nur Metaphysiker, sondern auch Literaturtheoretiker, Historiker, Indologe und Romanschriftsteller. Und mehr noch – gewissermaßen war er dies alles auf einmal. Was ihn nämlich wahrscheinlich am meisten von seinen philosophischen Zeitgenossen abhob, war die Tatsache, daß er die Grenzen zwischen den verschiedenen Wissenschaften und Literaturgattungen in seinem Schaffen nicht anerkannte.

Gedankengänge philosophischer Natur drückte er in Romanform aus. Abhandlungen mit eher trockenem Inhalt spickte er mit zahlreichen Sinnbildern und Wortspielen. Aufsätze, Erzählungen und Aphorismen flossen bei ihm beständig ineinander. Dadurch vermischte er Sinn und Form, Schein und Sein, Wahrheit und Fiktion miteinander. Seine Theorie des Romans etwa präsentierte er nicht in einer ordentlichen Abhandlung, sondern in einem eigens dafür geschriebenen Roman – der „Lucinde“.

Jenaer Gelehrtenkreis würdigte den alten Goethe

Seinen akademischen Ruf begründete Schlegel in Dresden und Jena als Kenner der antiken Literatur. Wie ein Wilder soll er damals die Werke Homers, Sophokles’, Platons und Thukydides verschlungen haben. Über all diese Autoren veröffentlichte er in der Folge mehrere vielbeachtete Arbeiten. Besonderen Gefallen schien er dabei an dem alten Komödiendichter Aristophanes gefunden zu haben. In Jena schloß er eine innige Freundschaft mit dem Dichter Novalis, verkehrte aber auch mit den damals schon berühmten Philosophen Schelling und Fichte. Der Kreis von Gelehrten, den er so um sich versammelte, ging bald als „Jenaer Frühromantik“ in die Geistesgeschichte ein.

Die Jenaer Romantiker setzten sich mit ihren Schriften ganz bewußt von den Idealen der literarischen Klassik ab, die bis dahin in Deutschland tonangebend war. Der Vorbildcharakter von Schriftstellern wie Lessing, Schiller und Wieland wurde zugunsten von Shakespeare und Platon aufgegeben, die erstmals umfänglich ins Deutsche übersetzt wurden. Die Frühromantiker setzten sich allerdings auch dafür ein, den alten Goethe zu würdigen. Friedrich Schlegel verehrte den Titanen vor allem für seinen „Wilhelm Meister“. Goethe soll dies mit stillem Wohlwollen beobachtet haben. Bekanntschaften mit dem Theologen Friedrich Schleiermacher und dem Schriftsteller Ludwig Tieck folgten dann später in Berlin. Der damals noch blutjunge protestantische Prediger soll von Schlegel wichtige Anregungen für seine epochemachenden „Reden über die Religion“ erhalten haben, die seither als Gründungsdokument der liberalen Theologie gelten.

An solchen Episoden wird augenfällig, was für ein unheimlicher Gesellschafter Schlegel gewesen sein muß. Sein humorvolles Naturell brachte ihm offenbar viele Freunde ein und ließ seinen Wirkungskreis auf diese Weise unüberschaubar werden. „Witz ist unbedingt geselliger Geist“, schrieb der schelmische Denker damals in einem seiner vielen Aphorismen – und nahm damit auch einen Gedanken Sigmund Freuds vorweg, der den Witz fast ein Jahrhundert später als „sozialsten aller Lustgewinne“ bezeichnete. Vor allem Schiller konnte diesen Wesenszug allerdings nicht ausstehen. Nachdem sich Schlegel einmal köstlich über sein Gedicht „Die Glocke“ amüsiert hatte, soll er den Kontakt zu dem Philosophen abgebrochen haben.

Dabei war doch gerade diese „Frechheit“, wenn man so will, nichts weiter, als Schlegels eigene Freude am Denken. „Die Griechen hielten die Freude für heilig, wie die Lebenskraft; nach ihrem Glauben liebten auch die Götter den Scherz“, schrieb Schlegel etwa in einem seiner Frühwerke. Für ihn waren Freude, Scherz, Gelächter und Witz mehr als bloßer Zierat ernsthafter Gedanken. Sein vielleicht wichtigstes Anliegen war sogar, die Unterscheidung zwischen Witz und Ernst aufzuheben, sozusagen in Witzen zu denken. Dieses merkwürdige Vorhaben bezeichnete er selbst als Ironie. „In ihr soll alles Scherz und alles Ernst sein, alles treuherzig offen, und alles tief verstellt“, erläuterte Schlegel diese Geisteshaltung einst in einem seiner zahlreichen Aphorismen.

Die Widersacher ernst nehmen und auf die leichte Schulter 

Kein Wunder also, daß sich seine Mitwelt – und auch die Nachwelt – oft von ihm an der Nase herumgeführt sah. Schlegel wollte belacht und nicht verstanden werden. In einem Traktat über das Thema der Unverständlichkeit amüsierte sich der witzelnde Denker beispielsweise über den Gedanken, daß epochemachende Dichter wie etwa Cervantes oder Homer sich vielleicht einen Spaß daraus gemacht haben könnten, ihr Publikum zu verkohlen. Was im Grunde eine literaturtheoretische Betrachtung ist, wird wie ein Kalauer dargeboten. „Mit der Ironie ist durchaus nicht zu scherzen. Sie kann unglaublich lange nachwirken. Einige der absichtlichsten Künstler der vorigen Zeit habe ich in Verdacht, daß sie noch Jahrhunderte nach ihrem Tode mit ihren gläubigsten Verehrern und Anhängern Ironie treiben.“ Mit der Ironie, dem Scherz, war für Schlegel also nicht zu scherzen.

Man muß sich diese Worte langsam auf der Zunge zergehen lassen, um den ungeheuren Humor hinter dem Gedanken zu begreifen. Denn wer mit dem Witz Ernst macht – macht Witze. Schlegel widersprach auf diese Weise auch dem Systemzwang seiner Zeit. Während Philosophen wie etwa Kant, Schelling, Fichte und Hegel besonderen Wert auf die Entwicklung zusammenhängender Gedankengebäude legten, ließ Schlegel alle gedankliche Ordnung für einen kleinen Spaß über die Klinge springen. Dieser Umstand ließe sich durchaus als Quintessenz seiner Philosophie bezeichnen – für Schlegel war kein Gedanke so ernst, daß man nicht über ihn schmunzeln konnte. Wie der alte Demokrit könnte auch er Anspruch auf das Epitheton des „lachenden Philosophen“ erheben.

Sein vielleicht gelungenster Witz aber war seine verblüffende Verwandlung vom glühenden Verfechter der Französischen Revolution zum Helfer der katholischen Reaktion. Seit 1808 lebte der Philosoph in Wien. Dort arbeitete er wie gewohnt an seinen literaturhistorischen Werken, fing aber gleichzeitig an, sich für historische und theologische Fragen zu interessieren. Seine konservative Kehrtwende war eingeleitet. Besondere Faszination übte die Geschichte Österreichs auf ihn aus. Aber auch die indische Kultur begeisterte ihn, weshalb er sich in nur wenigen Monaten umfassende Kenntnisse in Sanskrit aneignete. Seine Vorlesungen vor einem Publikum aus Fürsten und Herzogen wurden zu einem gesellschaftlichen Ereignis. Joseph von Eichendorff, der Zeuge eines dieser Vorträge wurde, hielt Schlegels Ausführungen über Kaiser Karl V. für „sehr brillant“. Beim Ausbruch der napoleonischen Kriege stellte sich der einst revolutionär gesinnte Philosoph aus Überzeugung in den Dienst von Metternich, für den er fortan als Diplomat tätig war. Zwischen den beiden entwickelte sich bald ein bemerkenswertes Verhältnis. Schlegel sah in Metternich einen Schutzpatron, Metternich wiederum in Schlegel einen Vordenker der österreichischen Politik. Das Duo bestritt den Kampf gegen Napoleon und den Wiener Kongreß miteinander. Ihre Freundschaft sollte ein Leben lang halten.

Während seiner Wiener Jahre scharte Schlegel wieder einmal – wie einst in Jena – einen Kreis von bedeutenden Denkern um sich. Der Philosoph hatte nämlich durch sein Wirken nicht nur die Frühromantik, sondern auch die Spätromantik mit ins Leben gerufen. Das wird im Rückblick leider immer wieder vergessen, obwohl die beiden Strömungen geistesgeschichtlich gleich wichtig sind. Vor allem der intellektuelle Konservatismus hat im nachhinein unter dieser Vergeßlichkeit gelitten. Eine Frucht dieser Periode ist unter anderem die Zeitschrift Concordia, die sich um eine theologische Begründung des gesellschaftlichen Zusammenlebens bemühte. Nicht nur Schlegel selbst publizierte in diesem Blatt, sondern auch Schriftsteller wie Adam Müller, Friedrich Gentz, Joseph Görres und Carl Ludwig von Haller.

Auf den Begriff hat diese Kehrtwende fast niemand zu bringen vermocht. Heine beispielsweise sprach in der Rückschau etwas verdattert von den „religiösen Privatmarotten“ des mit der Zeit immer rundlicher werdenden Gelehrten. Unter Geisteswissenschaftlern hat man in den folgenden 250 Jahren dann auch immer den „reaktionären“ gegen den „revolutionären Schlegel“ ausgespielt.

Wer so redet, hat die Rechnung allerdings ohne den Wirt gemacht. Durch die Brille des Ironikers betrachtet, hat dieser scheinbare Widerspruch nämlich durchaus einen guten Sinn – und der liegt in der Komik des Sinneswandels. Einem Philosophen wird selten bis niemals gestattet, seine Meinung zu ändern. Wittgenstein ist eines der seltenen Beispiele für einen Denker, der es sich einmal anders überlegt hat – zum Verdruß seiner Interpreten. Im Falle Schlegels war dieser Verdruß wahrscheinlich sogar zweifacher Natur.

Der Philosoph hatte seinen vorherigen Standpunkt nämlich nicht einfach nur korrigiert, sondern seiner Korrektur einen konservativen Anstrich verliehen. Nur wenige Zeitgenossen wurden schlau aus dieser intellektuellen Umkehr. Schon damals wurde nämlich in weiten Kreisen des literarischen Deutschlands bezweifelt, daß ein Mensch gleichzeitig klüger und konservativ werden könne. Selbst sein Bruder konnte am Ende keinerlei Verständnis mehr für Schlegels Kehrtwende aufbringen. „Mit den allgemeinen Aussprüchen über das Zeitalter ist es eine mißliche Sache. Von allem, was ich darüber in deinen neueren Schriften und Briefen gelesen, habe ich immer gerade das Gegenteil gedacht, oder auch gar nicht verstanden, was du willst.“

Ein Schelm, wer sich bei diesen Zeilen denkt, daß Schlegels Konservatismus vielleicht am Ende so etwas wie ein erhabener Streich, eine Art philosophische Eulenspiegelei wider den liberalen Zeitgeist war. Also etwas, worüber er sich selbst am meisten amüsiert haben könnte. Man kann Schlegel insofern durchaus als Urheber eines modernen, humorvollen und witzigen Konservatismus betrachten, der sich mit seinem weltanschaulichen Gegenüber nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch auseinandersetzt. Kurz, man kann in ihm einen Konservativen sehen, der seine Widersacher nicht nur ernst nimmt, sondern auch auf die leichte Schulter.

Foto: Karl Wilhelm Friedrich Schlegel (1772–1829): „Mit der Ironie ist durchaus nicht zu scherzen“