© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/22 / 11. März 2022

Ein Lob des Wettbewerbs
Das zentrale Geschäft des Lebens
Gerd Habermann

Ansehen, Positionen, Vorrang sind ebenso knapp und begehrt wie die meisten materiellen Güter und die Lebenszeit. Daraus ergibt sich zwangsläufig ein Wettbewerb, der sich wohl moralisch und gesetzlich regulieren, aber niemals ausschalten läßt.

Wer Wettbewerb als unmoralisch oder unsolidarisch, gar „diskriminierend“ schilt, sollte sich klarmachen, daß er die Lebensquelle der Evolution ist – in der Kultur nicht weniger als in der Natur. Er herrscht zwischen Individuen und Gruppen, zwischen Regeln und Institutionen, zwischen Lebensformen, Religionen, Idealen und Werten, Sprachen, Währungen und Organisationsformen. Der Wettbewerb ist nicht nur das Leben des Geschäfts, sondern auch das zentrale Geschäft des Lebens.

Ausgehend von jenem Mißverhältnis zwischen unseren Wünschen und der Knappheit an Mitteln und Zeit hat der Wettbewerb jene Spezialisierung, Vielfalt und komplexe Ordnung hervorgebracht, die Basis unseres Überlebens und unseres Wohlstandes ist. Den Wettbewerb in Wirtschaft und Gesellschaft nicht nur durch Sitte, Gesetz und Moral regulieren, sondern – im Interesse von Gleichheit, „sozialer Gerechtigkeit“, „Nichtdiskriminierung“ usw. – ausschalten zu wollen, ist ein Unterfangen, das, wie die sozialistischen Experimente zeigten und täglich wieder zeigen, zum Scheitern verurteilt ist. Man schafft dadurch nur neue und schroffere Ungleichheiten und untergräbt die Basis von Wirtschaft, Kulturleben und sozialem Zusammenhang. Ein solches Ideal muß sich indessen glücklicherweise selbst dem Wettbewerb stellen und ist ihm, wie historische Erfahrung lehrt, regelmäßig nicht gewachsen.

Wer von marktwirtschaftlichem Wettbewerb als verwerflichem „sozialen Darwinismus“ spricht, übersieht, daß es in fortgeschrittenen Gesellschaften seit langem schon nicht mehr um den „struggle for life“, um das nackte physische Überleben, sondern nur um den Vorrang, die Lebensposition geht. In allen fortgeschrittenen Gesellschaften wird seit langem nicht nur ein physisches, sondern ein konventionelles Existenzminimum garantiert, das sich nach dem allgemeinen Lebensstandard richtet. Niemals hatten es auch die „sozial Schwachen“ so gut wie heute. Auch der „ewige Landfrieden“ ist staatsintern grundsätzlich gesichert. Die „Starken“ können nicht beliebig über die Schwächeren herfahren. Es geht in einer Wettbewerbsgesellschaft vor allem um Erfolg, um den bestmöglichen Platz in der sozialen Rangordnung, um eine möglichst vorteilhafte Stellung bei der Produktion, Verteilung und dem Konsum der vorhandenen Lebens- und Genußmittel wie auch um die Erlangung begehrter Positions- oder Prestigegüter, um Macht, Ansehen und Einfluß. Nicht jeder kann Minister, Unternehmensführer oder Fußballstar werden.

Dieser Wettbewerb ist immer da: zwischen Gruppen und innerhalb von Gruppen, zwischen und innerhalb von Unternehmen, Behörden und Haushalten – und er geht selbst innerhalb jedes einzelnen vor sich: als Wettbewerb widerstreitender Präferenzen und Motive.

Unter kulturellen Verhältnissen werden Gruppen, die zur Regelung ihrer sozialen Beziehungen auf rohe Gewalt setzen, kaum die Oberhand gewinnen. Erfolgreich werden vielmehr jene sein, die inneren Zusammenhang und gegenseitiges Vertrauen („Sozialkapital“) mit größter arbeitsteiliger Differenzierung verbinden. Im kulturellen und ökonomischen Wettbewerb sind nicht physische Eigenschaften, sondern kulturelle Hervorbringungen entscheidend, zum Beispiel die Eigentums- oder Gruppenverfassung mit ihren moralischen Regeln und Streitformen, die Gewohnheiten, welche die Zusammenarbeit erleichtern, die Höhe des technischen und wissenschaftlichen Wissens.

Privateigentum, Familie und Tauschwirtschaft haben sich als erfolgreichste Institutionen ergeben, wie der größere Erfolg der Gruppen beweist, die sie praktizieren. Die moralischen Regeln selber werden dabei zum Evolutionsfaktor. Kooperation ist in diesem Wettstreit ein besonders wichtiges Element. Der Kulturhistoriker Will Durant bemerkte: „Zusammenarbeit (...) gewinnt mit der gesellschaftlichen Höherentwicklung an Bedeutung, jedoch hauptsächlich, weil sie ein Werkzeug und eine Form des Wettbewerbs ist; wir unterstützen unsere Gruppe – sei es die Familie, sei es die Gemeinde, den Club, die Kirche, die Partei, die Nation –, weil wir auf diese Weise ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern. Der Wettbewerb fördert insoweit die Zusammenarbeit.“

Er fördert in Gestalt der Marktwirtschaft – des „Kapitalismus“ – die Zivilisierung, ja Moralisierung der Gesellschaft. Der Gegenpol zum Wettbewerb ist nicht Nächstenliebe, sondern das Monopol. Jeder kann sich nur durch den gewaltlosen Dienst am Nächsten – im Vertragswege – vorwärtsbringen, nicht durch Gewalt oder Betrug. Der freie Tausch liegt im gegenseitigen Vorteil, sonst würde er nicht zustande kommen. Der Markt ist in diesem Sinn eine moralische Anstalt, er zivilisiert die Menschen: Vertrag statt Gewalt. Er belohnt Selbstdisziplin, Vertragstreue, Aufmerksamkeit, Fleiß. Auch die größten Unternehmen sind im letzten abhängig vom täglichen Plebiszit der Märkte über ihre Produkte und Dienstleistungen.

Auf dieser großen Gesellschaft gegenseitigen Vorteils beruhte die Hoffnung der klassischen Liberalen auf internationalen Frieden. Eine Hoffnung, die im 20. Jahrhundert furchtbar enttäuscht wurde, da die nationalen oder imperialen Leidenschaften stärker waren als jedes Kalkül eines wohlverstandenen Selbstinteresses. Auch heute stören diese Leidenschaften wieder die friedliche internationale Kooperation, also die Errungenschaften der Globalisierung, der internationalen Vernetzung und Arbeitsteilung.

Das „Eigeninteresse“ ist, nebenbei gesagt, auch nicht mit verwerflichem Egoismus zu verwechseln. Es kann sich sehr wohl auch mit altruistischen Großtaten, mit Familien- und Freundschaftssinn, mit großherzigem Mäzenatentum karitativer oder kultureller Art verbinden. Selbst krasser Egoismus, Machtwille, böser Neid und eifersüchtige Geltungssucht können sich in einer Wettbewerbsgesellschaft nur durch Leistungen für andere vorwärtsbringen – eine „List der Vernunft“, der wir unseren Wohlstand verdanken. Nicht leugnen sollte man, daß dabei auch das Glück eine Rolle spielt. Das persönliche Kapital an Gesundheit, Intelligenz, Charakter, Aussehen, guten Manieren und Humor spielt gewiß seine Rolle. Und ist schließlich bei dem unternehmerischen Erfolg nicht auch – bei der Unvollständigkeit unseres persönlichen Wissens, dem spekulativen Charakter allen unternehmerischen Handelns – das „Glück“ im Spiel? Jenes Glück, das die weniger erfolgreichen Neidhammel und so zahlreichen Gleichheitsfanatiker und linken Ideologen so gern an die Kandare nehmen möchten?

Besonders Friedrich August von Hayek hat die Funktion des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren von Wissen beschrieben, als „Verfahren zur Entdeckung von Tatsachen, die ohne sein Bestehen entweder unbekannt bleiben oder doch zumindest nicht genutzt werden würden“. Wer was am besten kann, am besten weiß – dies zeigen nicht nur der Sport oder Prüfungen, sondern auch der Markt: wer das richtige Produkt, die beste Methode, den richtigen Standort zur richtigen Zeit kennt, kann nur der schließliche Erfolg zeigen. „Es ist eine Hauptaufgabe des Wettbewerbs, zu zeigen, welche Pläne falsch sind“, sagt Hayek.

Erzeugt eine Wettbewerbsgesellschaft „soziale Kälte“? Das Gegenteil ist der Fall: Wo der Staat das Soziale bei seinen Behörden monopolisiert, wird die spontane Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe geschwächt. Was privat Wohltätigkeit hervorbringt, zeigen musterhaft die USA oder auch Deutschland im 19. Jahrhundert, bevor Bismarck mit dem modernen Wohlfahrtsstaat begann. Die Sozialisierung des Sozialen wird gerade zur Quelle der beklagten „sozialen Kälte“. Eine anonyme Bürokratie kann nie „sozial warm“ sein, Liebe läßt sich nicht bürokratisieren. „Solidarität“ ist gewiß von moralischem Wert, sofern sie auf Freiwilligkeit beruht. Wer mit der Pistole auf der Brust dazu gezwungen wird und wer ihn dazu zwingt, ihm persönlich meist unbekannten Menschen zu helfen („Fernstenliebe“), dessen moralische Standards können niedrig sein. Die großzügige Verteilung von sozialen Wohltaten auf Kosten wehrloser Dritter seitens der Regierungen, die darin ihren eigenen Vorteil finden, hat mit Moral wenig zu tun, oder es ist doch, wie der heilige Augustinus einmal schrieb: die Moral einer Räuberbande.

Vergessen wir nicht die Funktion des Wettbewerbs als „Entmachtungsinstrument“ (Franz Böhm) – als Gegensatz zum Monopol, welches die Macht konzentriert und ihren Mißbrauch und Übermut ermöglicht. Dies gilt wirtschaftlich wie auch politisch, wenn man zum Beispiel den Wettbewerb der Staaten mit ihren konkurrierenden Institutionen einschränkt, wie dies beispielsweise das große EU-Kartell zunehmend tut, besonders folgenreich in der Monopolisierung des Geldes. Denn auch in der Politik sollte der Wettbewerb regieren, zwischen und innerhalb von Staaten (Föderalismus, kommunale Selbstregierung). In einem zentralisierten Wohlfahrtsstaat ohne starke Eigentumsrechte der Bürger kann der Wettbewerb der Parteipolitiker um Wiederwahl und Pfründen leicht zum Niedergang eines Gemeinwesens führen (Staatsbankrott, Inflation, Wirtschaftskrisen, soziale Desintegration), wie Hans-Hermann Hoppe und andere drastisch gezeigt haben.

Der große Soziologe und Philosoph Georg Simmel hat sich mit der sozialisierenden Wirkung des Wettbewerbs auseinandergesetzt. Er schreibt in seiner „Soziologie“: „Der Konkurrenz gelingt unzählige Male, was sonst nur der Liebe gelingt: das Ausspähen der innersten Wünsche eines anderen, bevor sie ihm noch selbst bewußt geworden sind. Die antagonistische Spannung gegen den Konkurrenten schärft bei dem Kaufmann die Feinfühligkeit für die Neigung des Publikums bis zu einem fast hellseherischen Instinkt für die bevorstehenden Wandlungen seines Geschmacks, seiner Moden, seiner Interessen. Die moderne Konkurrenz, die man als den Kampf aller gegen alle kennzeichnet, ist zugleich auch der Kampf aller um alle.“

Die lieblose, kundenverachtende Haltung von Monopolen ist nur zu gut aus der Geschichte von Post, Bahn oder Rundfunk bekannt, als sie noch Monopole waren – und natürlich auch von Behörden. Als der Wunsch des Bürgers nach einem Telefonanschluß nicht mehr von der Post gnädig als „Antrag“ entgegengenommen, sondern als „Auftrag“ aufgefaßt wurde, war dieser Punkt auffällig markiert. Oder nehmen wir das Zuweisen von Sitzplätzen in Gaststätten in den USA und in der früheren DDR: In den USA ist dies eine nützliche Dienstleistung, in der DDR war dies ein Machtinstrument.

Unser derzeitiger Wohlfahrtspolizeistaat unterliegt natürlich auch dem Wettbewerb – und da sieht seine Bilanz nicht eben günstig aus: Schulden wie in Kriegszeiten, furchtbare Bürokratisierung, wachsende Staatsquoten, Gefährdung des Geldes, Gefährdung des Eigentums durch Fiskalsozialismus, Demoralisierung der Gesellschaft durch Sozialsozialismus, kollektivierende Familienpolitik („Verstaatlichung der Kindheit“), mit all dem eine Auszehrung auch des „biologischen Kapitals“ (eine negative demographische Entwicklung) und eine realitätswidrige egalitäre Ideologie – der um sich greifende „Kulturmarxismus“. Das gibt unserer Gesellschaft keine guten Prognosen. Wir haben zunehmend die falschen – wettbewerbsfeindlichen – Ideale und Leidenschaften. Das fordert seinen Preis.

Von seinen lebensfreundlichen Wirkungen her ist der Wettbewerb moralisch voll gerechtfertigt – Freiheit und materielles Wohlergehen und was daran hängt. Wichtig wäre, in einer Zivilgesellschaft eine Ethik zu lehren – oder sie wieder zu lehren –, die der herausragenden Bedeutung des Wettbewerbs Rechnung trägt. Dem Bürger müssen im Privatleben und namentlich in Bildungseinrichtungen auch agonale Tugenden gelehrt werden. Ihm sollten nicht Ansprüche auf Staatsleistungen und „soziale Grundrechte“ oder gesellschaftsfeindliche, egalitäre Ideale eingeredet, sondern wettbewerbsfreundliche Ideale im Sinne von Subsidiarität, Selbstverantwortung, Eigeninitiative und die dazugehörigen zivilen Kardinaltugenden nahegelegt werden. „Wenn du eine hilfreiche Hand brauchst, so suche sie am Ende deines Arms.“






Prof. Dr. Gerd Habermann, Jahrgang 1945, ist Wirtschaftsphilosoph, Hochschullehrer und freier Publizist. Seit 2003 lehrt er als Honorarprofessor an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam. Habermann initiierte die Friedrich-August-von-Hayek-Gesellschaft. Seine jüngste Buchveröffentlichung: „Freiheit in Deutschland. Geschichte und Gegenwart“, Lau-Verlag, Reinbek 2021.

Foto: Auf die Plätze, fertig, los!: Wer Wettbewerb unmoralisch findet, sollte sich klarmachen, daß er die Lebensquelle der Evolution ist