© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/22 / 11. März 2022

„Gut koordinierte Vorfälle“
Höchste US-Militärs heckten im Frühjahr 1962 wahnwitzige False-Flag-Aktionen aus, um das Castro-Regime zu desavouieren
Thomas Schäfer

Die Hintergründe des Attentats auf den US-Präsidenten John F. Kennedy vom 22. November 1963 sind nach wie vor ungeklärt. Daran ändert auch die Freigabe von mittlerweile 88 Prozent der Untersuchungsakten durch das Assassination Records Review Board (ARRB) nichts. Allerdings kamen in diesem Zusammenhang mehrere Dokumente zum Vorschein, aus denen sich mögliche Mordmotive ergeben. 

Hierzu zählt unter anderem ein Schreiben vom 13. März 1962 mit dem Titel „Justification for Military Intervention in Cuba“ zur Vorlage bei Kennedy und dem US-Verteidigungsminister Robert McNamara. Es trägt die Unterschrift des Vorsitzenden der Joint Chiefs of Staff (Vereinigte Stabschefs der US-Teilstreitkräfte; JCS), General Lyman Lemnitzer, und entstand in Reaktion auf eine Anfrage von Brigadier General Edward Lansdale vom 5. März 1962. Dieser vietnamerfahrene Offizier war Leiter der im November 1961 gestarteten Operation Mongoose, auch bekannt als „The Cuban Project“, des US-Auslandsgeheimdienstes Central Intelligence Agency (CIA) und weiterer Institutionen der Vereinigten Staaten. 

Der Zweck des Unternehmens bestand darin, den kubanischen Revolutionsführer Fidel Castro zu ermorden und das mit der Sowjet-union paktierende kommunistische Regime auf der Insel rund 200 Kilometer südlich von Florida zu stürzen, nachdem die von der CIA initiierte Invasion von Exilkubanern in der Schweinebucht im April 1961 ein blamables Ende gefunden hatte. In diesem Zusammenhang sollen unter anderem 638 Attentate auf Castro versucht worden sein. Doch damit nicht genug: Lansdale, welcher von einem Komitee eingesetzt worden war, das unter der Leitung von John F. Kennedys Bruder Robert stand und dem neben Lemnitzer und General Maxwell Taylor außerdem noch der stellvertretende Under Secretary of State Alexis Johnson, der Nationale Sicherheitsberater McGeorge Bundy, Roswell Gilpatrick aus dem Pentagon sowie der CIA-Chef John McCone angehörten, wollte zudem auch Tatsachen schaffen, „die eine Rechtfertigung für eine militärische Intervention der USA in Kuba liefern würden“. 

Deshalb seine Bitte vom 5. März 1962 an die Vereinigten Stabschefs, entsprechende konkrete und praktisch umsetzbare Vorschläge zu machen, auf welche Lemnitzer dann mit dem Schreiben vom 13. März reagierte. Und das hatte es in sich, denn es bestand letztlich aus einer Auflistung von mehr als 20 Ideen, wie man „gut koordinierte Zwischenfälle“ inszenieren und diese dann Castro beziehungsweise dessen Streitkräften in die Schuhe schieben könne. Mit anderen Worten: Lemnitzer empfahl im Namen der Vereinigten Stabschefs sogenannte False-Flag-Aktionen, also Gewaltakte gegen das eigene Land, wobei der Eindruck erweckt werden sollte, daß diese sämtlich auf das Konto der Gegenseite gehen.

So wurde beispielsweise zu Angriffen „kubanischer Militärs“ auf die seit 1903 von den Vereinigten Staaten genutzte Guantanamo Bay Naval Base geraten und dabei der Tod von US-Bürgern kaltblütig mit einkalkuliert. Das gleiche galt für die ebenfalls in Betracht gezogenen Terroranschläge „kubanischer Kommunisten“ in Miami und Washington. Außerdem regten die JCS an, ein Boot mit kubanischen Flüchtlingen auf dem Weg nach Florida zu versenken und diese Mordtat Castro anzulasten. Des weiteren sollten kubanische Attacken gegen Haiti, Guatemala, Nicaragua oder die Dominikanische Republik „simuliert“ werden, um die Weltöffentlichkeit gegen das Regime auf der Zuckerrohrinsel aufzubringen. 

Im selben Zusammenhang war vor allem von nächtlichen Luftangriffen „kubanischer Bomber“ gegen Flugplätze dieser karibischen Staaten die Rede. Die könnten dann – so die Stabschefs – „durch ‘kubanische’ Funksprüche sowie ‘kubanische’ Waffenlieferungen (…) an die kommunistische Guerilla-Bewegung im Lande (…) ergänzt werden“. Noch perfider kam freilich die Idee daher, ein ziviles US-Charterflugzeug voller amerikanischer Studenten auf dem Weg nach Jamaika, Panama oder Venezuela von „kubanischen Kampfjets“ abschießen zu lassen – auch, wenn dann nachfolgend eingeschränkt wurde, es reiche wohl aus, den Tod der Insassen vorzutäuschen und nur eine ferngesteuerte unbemannte Kopie des Ferienfliegers im Meer zu versenken.

Konspirativen Terrorkrieg gegen das eigene Land anzetteln

Wie aus einer ebenfalls freigegebenen Aktennotiz Lansdales vom 16. März 1962 hervorgeht, lehnten sowohl John F. Kennedy als auch McNamara die Vorschläge ab, wobei der Präsident darauf verwies, daß angesichts des weltweiten militärischen Engagements der USA wohl kaum genügend Truppen für eine Invasion auf Kuba verfügbar seien. Gleichzeitig scheint Kennedy aber mißfallen zu haben, daß die Vereinigten Stabschefs allen Ernstes einen konspirativen Terrorkrieg gegen das eigene Land anzetteln wollten. Darauf deutet die Ablösung Lemnitzers zum 30. September 1962 hin, nach welcher der Viersterne-General zum Chef des United States European Command (USEUCOM) ernannt wurde. Denn das stellte faktisch eine Degradierung dar, da der vorherige Posten an der Spitze der JCS der absolut höchste in den US-Streitkräften war. Möglicherweise resultierte daraus eine feindselige Haltung Lemnitzers und anderer hoher Militärs gegenüber Kennedy.

Nach seiner aktiven Dienstzeit avancierte der General 1975 zum Mitglied der von Präsident Gerald Ford eingesetzten Rockefeller-Kommission, deren Aufgabe darin bestand, illegale Aktivitäten der CIA und anderer US-Geheimdienste auf dem Boden der Vereinigten Staaten zu untersuchen. In dieser Eigenschaft soll sich Lemnitzer weniger um Aufklärung als um eine systematische Reinwaschung der CIA bemüht haben.