© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/22 / 11. März 2022

Weiße Prinzipien in Kants Philosophie
Vor dem Tribunal der Critical Race Theory hat der Denker keinen Freispruch zu erwarten
Oliver Busch

Neue politische Nachrichten erwartete Immanuel Kant stets mit Ungeduld. Denn keine Geschichte, so vertraute der Königsberger Denker es seinem späteren Biographen an, hielt er für „lehrreicher als die, die sich täglich in den Zeitungen“ finde. Dieses lebhafte Interesse an Weltgeschichte entsprach ganz seiner Vorstellung von der politischen Verantwortung des Philosophen, der nur gerecht werde, wer wisse, worüber er urteile. 

Politik, das war für Kant seit 1789 Weltpolitik, deren Abläufe die Französische Revolution, mit der er, unbeirrt vom jakobinischen Terror, sympathisierte, sowie deren Gegenspieler Rußland und England bestimmten. Rußland, den unmittelbaren Nachbarn Ostpreußens, fürchtete Kant nicht. Es könne gebändigt werden, da es „mittellos“ sei, so daß dort immer innere Unruhen bei auswärtigen Verwicklungen ausbrächen, die es dem Zarenreich nicht erlaubten, nachhaltigen weltpolitischen Einfluß auszuüben. Anders stünde es mit der „englischen Nation“. Deren von unersättlicher Habgier diktierte Außenpolitik fördere überall nicht Kultur und Freiheit, sondern „allergrausamste Sklaverei und Barbarei“. Namentlich in Indien: Unterdrückung der Eingeborenen, Hungersnot, Aufruhr und Krieg seien im Gefolge der britischen Eroberung des Subkontinents dort eingezogen. In der Verurteilung des Kolonialismus ließ sich der Vordenker des modernen Universalismus der Menschenrechte also schwerlich von einem zeitgenössischen Zunftgenossen übertreffen.

Trotzdem wird der exemplarische „Philosoph der europäischen Aufklärung“ nun als Rassist vor die Tribunale postkolonialer Hypermoralisten zitiert, die keine Freisprüche kennen. Erste „Ermittlungen“ gab es bereits 1989, als Alex Sutter den „impliziten Rassismus in Kants Geschichtsphilosophie“ skandalisierte. Seitdem köchelte das Thema vor sich hin, bevor es im Zuge des internationalen „Black Lives Matter“-Spektakels im Sommer 2020 auf stärkere Resonanz stieß. So regte der „Sklaverei-Historiker“ Michael Zeuske an, beim allfälligen anti-kolonialistischen und anti-rassistischen Bildersturm auch Kants Denkmal nicht zu verschonen. Und der Frankfurter Philosophiehistoriker Marcus Willaschek ergriff die Chance, „Kant war ein Rassist“ zu trompeten, um nicht gänzlich anonym im nahenden Ruhestand zu verschwinden. Willascheks knallige These, in Kants Werk sei eine „Rassenhierarchie mit den Weißen an der Spitze“ errichtet worden, blieb nicht unwidersprochen, setzte sich jedoch im kollektiven Kurzzeitgedächtnis mit Unterstützung des linkspopulistischen Philosophie Magazins fest. Dort wollte Marianna Lieder in einem Text von 1788 eine „rassistische Werteskala“ entdeckt haben.    

Auf diesen Text, genauer auf eine längere Anmerkung darin, in der Kant lediglich berufssoziologische Erhebungen „unter den vielen tausend freigelassenen Negern, die man in Amerika und England antrifft“, referiert, beziehen sich jetzt auch Martina Martinez Mateo (München) und Heiko Stubenrauch (Lüneburg) in ihrem Essay über „weiße Prinzipien in Kants Philosophie“ (Zeitschrift für Ideengeschichte, 1/2022), worin sie Max Horkheimers und Theodor W. Adornos „vor Bologna“ einst jedem Studenten im Grundstudium geläufige, Standardargumente der Modernekritik liefernde „Dialektik der Aufklärung“ von 1944 für ihre platte „Critical Race Theory“ ausbeuten. Deren Pointe es hier ist, Kant vorzuhalten, daß er nach dem damaligen ethnologischen Forschungsstand außereuropäische Völker für kulturell rückständig und sogar anlagebedingt für unfähig hielt, das zivilisatorische Niveau der „weißen Rasse“ zu erreichen. Wofür es um 1800 speziell in Schwarzafrika tatsächlich nicht den geringsten Anhaltspunkt gab. 


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