© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/22 / 11. März 2022

Mit der Existenz bestraft
Rolf Stolz’ Lebenserzählungen aus der Welt der achtziger Jahre
Michael Kreisel

Vorsicht ist angesagt für den, der sich „Rücksuchen“, dem Band 7 der Werke von Rolf Stolz, nähert. In ihm sind die beiden ersten Romane der „Münchhausen-Trilogie“ enthalten, der dritte – „Mannheim: Frontkämpfer“ – erschien bereits 2019. Nichts ist so, wie es der Erzähler in den mit sechs Gemälden des renommierten Künstlers Gerhard Silber illustrierten Werk seinen Figuren in den Mund legt, die selten agieren, meist reagieren. Sie sind Meister der Selbstrechtfertigung, um ihre Lebenserzählung zu legitimieren. Wie Münchhausen versuchen sie, sich an den Haaren aus dem Dreck zu ziehen.

Der Auftakt der Trilogie, „Der Gast des Gouverneurs in der Wand des Kraters“, beschreibt eine Flucht – gefangen im Netz des Vergessenwollens, aber nicht Vergessenkönnens. Jean-Pierre Mihiel, Professor an der Sorbonne mit algerienfranzösischen Wurzeln, „verheiratet und dreikinderig“, flieht vor seinem bisherigen Leben nach Mittel-amerika. In Belize begegnet ihm die Belgierin Katrin. Kurz darauf wird er von ihr verlassen und reist mit der Schweizerin Do weiter, bis er sich davonmacht, als Katrin wieder auftaucht. Rolf Stolz schildert in diesem atmosphärisch dichten Roman den modernen Menschen: Unfähig zu Bindungen erlebt er, daß Singledasein keine Freiheit bedeutet, sondern das Unbehauste, Wurzellose. Da sich das Individuum fremd geworden ist, bleibt ihm auch sein Gegenüber fremd. Die Reisebekanntschaften mutieren zu Inseln im Meer der Einsamkeit. 

Schnitt! Einem eher als Reiseroman angelegten Werk folgt ein Kriminalroman. Ein Jäger wird auf seinem Hochsitz erschossen. Als Täterinnen werden seine Ehefrau Marion und deren Halbschwester Eva Ebner verhaftet und zu lebenslänglich verurteilt. Während die Frau des Ermordeten die Tat zugibt, leugnet ihre Schwester. Aktendeckel zu, Fall abgeschlossen? Mitnichten! Rolf Stolz entwirft in „Schwester, Schwester, Bruder“ das beklemmende Porträt einer Familie im Deutschland der achtziger Jahre. Das Opfer, durch zwielichtige Geschäfte wohlhabend und notorisch untreu, ist auch Täter, die verurteilten Frauen ebenfalls Opfer. Macht und Unterdrückung, Gewalt und Hilflosigkeit sind die treibenden Kräfte, die scheinbar Agierenden Getriebene. Ob das Gerichtsurteil gerechtfertigt ist, bleibt offen. Bestraft sind die Protagonisten mit ihrer Existenz – lebenslänglich. Im Gegensatz zu den fünfzehn Jahren bis zur Begnadigung bedeutet das wirklich ein Leben lang. Empathie? Fehlanzeige! Wie schwarze Löcher drehen sie sich unentwegt im Kreis, saugen ihre Umgebung auf. Enthüllt wird ein Universum der Selbstzerstörung. Was für eine Hölle!

Rolf Stolz: Rücksuchen. Romane Eins. Werke Band 7. Verlag Edition Bärenklau, Bärenklau 2021, gebunden, 433 Seiten, 24,90 Euro