© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/22 / 11. März 2022

Gefährliche Parallelwelten
Der „Abtrünnige“ Erol Ünal beschreibt die bunte Welt der Moscheegemeinden in Deutschland
Filip Gaspar

Vom Hinterhofmoschee-Gänger zum Agnostiker. Diesen Weg beschreibt Erol Ünal, ein in Baden-Württemberg aufgewachsener Türke, in seinem Buch „Der Abtrünnige. 15 Jahre in Moscheegemeinden“ ausführlich. Der Leser bekommt Einblick in nicht nur eine, sondern gleich mehrere Parallelgesellschaften, denn die Auswahl an Moscheegemeinden in Deutschland ist vielfältig und bunt. Vielfältig in ihrer vermeintlichen Offenheit gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft und teilweise bunt in den äußerlichen Erscheinungsmerkmalen ihrer Mitglieder. 

Das erste Kapitel heißt auch „Der Eintritt in die Parallelgesellschaft“. Dieser vollzog sich für Ünal in einer Esslinger Hinterhofmoschee der Millî Görüş, wo ihn der Initiationsritus der Beschneidung erst zu einem vollwertigen Mitglied der „türkisch-muslimischen Community“ machte. 

Nach dieser einleitenden persönlichen Anekdote folgen zehn Kapitel über Ünals religiösen Werde- und seine Abkehr vom Islam. Anhand eigener Erfahrungen, aber auch durch die Erlebnisse seines Bruders Ömer, und von Verwandten und Freunden  wird die ganze Bandbreite der verschiedenen Strömungen der türkisch-muslimischen Gemeinden in Deutschland aufgezeigt. Dabei wird deutlich, daß eine Moschee nicht bloß ein Ort zum Verrichten des Gebets ist, sondern die Gemeindemitglieder dort ihre Einkäufe erledigen, sich die Haare schneiden lassen, Essen gehen oder sich bloß unterhalten können. Eine selbstgeschaffene Parallelgesellschaft, die alles „Notwendige eines Zusammenlebens“ anbietet. 

Jeweils ein Kapitel wird den Moscheeverbänden gewidmet. Es wird die Geschichte und politisch-religiöse Ideologie der Verbände offengelegt. Diese unterscheiden sich auch in Äußerlichkeiten voneinander, Ünal spricht gar von „Uniformen“. Gemeint sind die Art der Bärte und der Kleidung, aber auch der Begrüßungsformen. Daß ein Engagement in der Gemeinde auch Sprungbrett für die berufliche Karriere sein oder einem die Karriere auch kaputtmachen kann, wird deutlich.

Gleich das erste Kapitel widmet sich den nationalistischen „Grauen Wölfen“, deren glühender Anhänger Ünals Vater ist. Dieser schickte seinen siebenjährigen Sohn zu den Korankursen, wo die erste Indoktrinierung begann. Doch weil der Kurs nicht fesselnd war, schwänzte er diesen und fand über einen Schulfreund einen anderen Korankurs. Dieser fand bei dem ultrakonservativen Islamverband Millî Görüş, der seit Jahren im Verfassungsschutzbericht erwähnt wird, statt, womit sich das darauffolgende Kapitel auseinandersetzt.

Ein kurzes Kapitel beschäftigt sich mit einer Abspaltung von Millî Görüş, der mittlerweile in Deutschland verbotenen Kaplan-Gemeinde. Man erinnert sich hierzulande an den Kalifen von Köln, Metin Kaplan, deren geistigen Führer. Weiter werden die Sekten der „Süleymancilar“ und der „Menzil“ beschrieben. 

Nicht mit freiheitlichen oder demokratischen Werten gemein

Die „Süleymancilar“ haben „jahrtausendealte Praktiken übernommen, die im geheimen“ fortgeführt werden. Dazu zählen auch mystische Elemente, wie die des sogenannten „Dhikr“, der „bei Gott vereinfacht ausgedrückt ein gutes Wort für den Betenden“ einlegt. Im „Menzil“-Kapitel besucht man eine Derwisch-Tekke (türkisch: Orden), deren größter deutscher Ableger sich mitten im Ruhrgebiet in Castrop-Rauxel befindet. Durch nicht ausreichenden Platz im Gebetsraum erfährt Ünal jedoch keine Erleuchtung, sondern ist eher auf seinen Allerwertesten konzentiert. Eine durchaus humoristische Episode in dem sonst nüchtern geschriebenen Buch.

Ernster wird es dann mit dem Moscheendachverband Ditib, der von seinem Kölner Sitz aus etwa 900 Gemeinden in Deutschland vertritt und direkt dem türkischen Präsidium für Religionsangelegenheiten und somit der türkischen Regierung unterstellt ist. Ünal zeichnet dessen Entwicklung vom einstigen „Ort, der oft von liberalen Muslimen, Aleviten oder Muslimen, die keiner Gemeinde oder Sekte angehören, besucht wurde“, zum Sprachrohr der Islamisten nach. Man bedenke, daß dieses Ministerium einst vom türkischen Staatsgründer Atatürk ins Leben gerufen wurde und heute noch die Freitagspredigten für deutsche Ditib-Moscheen herausgibt.

Die Gülen-Gemeinden, „die letzte Station in meinem (Ünals) Marathon“, werden nach ihrem in den USA lebenden Oberhaupt Fethullah Gülen genannt. Recep Tayyip Erdoğan war bis zum Bruch mit Gülen dessen politischer Ziehsohn. Deren Trennung gipfelte in dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016. Nachdem die Gülen-Anhänger den Marsch durch die Institutionen vollbracht und Erdoğan zur Macht geholfen hatten, sahen sie ihre Felle davonschwimmen und in diesem dilettantischen Putschversuch auch ihre letzte Chance, das Ruder noch herumzureißen. So viel auch zu der These, daß hinter dem Putsch die letzten Säkulären in der Türkei steckten und keine konservativen Muslime. Gülen und all seine Anhänger gelten seitdem als Staatsfeinde und Gülen selbst gar als Staatsfeind Nummer eins. 

Ünal ist als jahrelanger Teilnehmer an Gesprächszirkeln in der Gülen-Gemeinde zur Überzeugung gekommen, daß diese „eine Agenda vorantreibt, die weder etwas mit freiheitlichen noch demokratischen Werten gemein hat“, und Gülen keineswegs der in der westlichen Welt oft als liberal und friedlich bezeichnete muslimische Prediger ist. Befremdlich ist für den Autoren, daß die Bundesregierung das interreligiöse „House of One“ in Berlin mit mehreren Millionen Euro fördere, wohlwissend, daß die Gülenisten involviert sind.

Der letzte Teil des Buches befaßt sich mit der AKP, der Partei des türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan, und wie diese es geschafft hat, Nationalisten und konservative Muslime zu vereinbaren und den türkischen Staat Stück für Stück von seinen laizistischen Grundpfeilern entfernt. Aber auch damit, wie Ünal seine bis dato gelebte Identität verlor, die auf dem Islam und dem türkischen Nationalismus basierte, und dennoch den Ausstieg schaffte. Trotzdem verurteilt er die Moscheegänger nicht oder redet schlecht über sie, wie dies bei einigen anderen „Ex-Muslimen“ der Fall ist. Vielmehr weist er auf die gefährlichen Folgen der Indoktrination von Kindern und Jugendlichen durch die Mischung von nationalistischer und islamistischer Ideologie hin.

Erol Ünal: Der Abtrünnige. 15 Jahre in Moscheegemeinden. Meine Einblicke in eine Welt von Fundamentalisten und Rechtsextremen über Radikale bis zu Sufis. Angelika Lenz Verlag, Neu-Isenburg 2021, broschiert, 256 Seiten, 19,90 Euro

Foto: Muslime beten in der Kölner Ditib-Zentralmoschee, Mai 2021: Der Moscheedachverband Ditib ist direkt dem türkischen Präsidium für Religionsangelegenheiten und somit der türkischen Regierung unterstellt