© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/22 / 18. März 2022

„Der Staat der Deutschen“
Urteil: Im Rechtsstreit der AfD gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz geht es auch um den „ethnischen Volksbegriff“, den ihr dieser vorwirft. Droht nun nach der gerichtlichen Niederlage der Partei vergangene Woche in Köln das „deutsche Volk“ grundgesetzwidrig zu werden? Fragen an den Verfassungsjuristen Dietrich Murswiek
Moritz Schwarz

Herr Professor Murswiek, das Verwaltungsgericht Köln hat die Klage der AfD abgelehnt – diese darf weiter als „Verdachtsfall“ geführt werden. Sind Sie überrascht? 

Dietrich Murswiek: Nein, denn die Hürde für die Einstufung als Verdachtsfall ist nicht hoch. Dafür reichen sogenannte „tatsächliche Anhaltspunkte“ aus. Und es gibt AfD-Politiker, die mit ihren Äußerungen „Anhaltspunkte“, also Verdachtsmomente, für eine verfassungsfeindliche Zielsetzung liefern – jedenfalls nach der, von den Verwaltungsgerichten akzeptierten, Interpretation dieser Äußerungen durch den Verfassungsschutz. Ob aber tatsächlich so viele und schwerwiegende Anhaltspunkte vorliegen, daß dies eine Beobachtung der AfD rechtfertigt, wird man erst beurteilen können, wenn in einigen Wochen die schriftliche Urteilsbegründung vorliegt. Denn erst dann erfährt man, wie das Gericht argumentiert und auf welche Tatsachen es seine Entscheidung stützt. 

In der vorläufigen Pressemitteilung des Gerichts heißt es zu den Gründen: „Im ‘Flügel’ und der ‘Jungen Alternative’“ – also der AfD-Jugendorganisation – „sei ein ethnisch verstandener Volksbegriff ein zentrales Politikziel. Danach müsse das deutsche Volk in seinem ethnischen Bestand erhalten und sollten ‘Fremde’ möglichst ausgeschlossen werden. Das weiche vom Volksbegriff des Grundgesetzes ab.“ Stimmt das?

Murswiek: Es gibt verschiedene Begriffe von „Volk“, insbesondere den Begriff des Staatsvolkes und den des Volkes im ethnisch-kulturellen Sinne. Man muß, wenn man politische Ziele formuliert, nicht „den“ Volksbegriff des Grundgesetzes verwenden. Wer sich – wie der Bundestag in einer Resolution 1996 – für die Erhaltung der ethnisch-kulturellen Identität des tibetischen Volkes einsetzt, meint mit „Volk“ nicht das Staatsvolk. Warum sollte das mit dem Grundgesetz unvereinbar sein? Entscheidend in der Presseerklärung des Verwaltungsgerichts ist aber der Satzteil: „Sollten ‘Fremde’ möglichst ausgeschlossen werden.“ Denn wenn „Fremde“ im ethnisch-kulturellen Sinne gemeint ist und wenn „möglichst ausgeschlossen werden“ bedeutet, diese aus dem Staatsvolk auszusondern, dann wäre das in der Tat verfassungsfeindlich.

Und wenn es das nicht bedeutet, sondern nur, sie möglichst gar nicht erst ins Staatsvolk aufzunehmen?

Murswiek: Einwanderungsbegrenzung ist grundgesetzkonform. Und es ist auch nicht verfassungswidrig, Flüchtlinge mit der Bedingung aufzunehmen, daß sie nach Wegfall des Fluchtgrundes in ihre Heimat zurückkehren. Allerdings kann man Menschen, die schon lange hier leben und integriert sind, nicht dauerhaft die Einbürgerung verweigern. Denn politisch könnte dies das nötige Zusammengehörigkeitsgefühl der Bevölkerung gefährden, die ja im Staatsvolk zu einer politischen Einheit zusammengefaßt werden soll. Und verfassungsrechtlich könnte ein Konflikt mit der Menschenwürdegarantie entstehen.

Vertritt denn die AfD in ihrer Programmatik eine dieser beiden verfassungswidrigen Haltungen? 

Murswiek: Es kommt nicht zwingend auf die Programmatik an. Es genügt, wenn solche Positionen von so vielen Funktionären oder Mitgliedern der Partei vertreten werden, daß sie dieser als politisches Ziel zugerechnet werden können – selbst dann, wenn es der Programmatik widerspricht.

Ist das bei der AfD der Fall?

Murswiek: Ich sehe das bisher nicht. Deshalb bin ich auf die Urteilsbegründung gespannt, denn dort muß belegt werden, daß relevante Teile der Partei verfassungsfeindliche Ziele verfolgen.

Laut Verfassungsschutz genügt dafür schon, einen ethnischen Volksbegriff zu pflegen. 

Murswiek: Tatsächlich ist das nicht ausreichend. Jedoch meint der Verfassungsschutz, sich bei dieser Sicht auf das NPD-Urteil von 2017 stützen zu können. Darin hat das Bundesverfassungsgericht die Auffassung vertreten, daß die NPD das ethnische Volk mit dem Staatsvolk identifiziere. Woraus sich ergebe, daß Menschen nichtdeutscher Herkunft diesem grundsätzlich nicht angehören könnten, was grundgesetzwidrig ist. Bei der AfD aber sehe ich diese Identifikation von ethnischem und Staatsvolk nicht. Der Bundesvorstand und die Landesvorsitzenden haben 2021 eine „Erklärung zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität“ abgegeben, mit der sie klarstellen, daß die Zugehörigkeit zum Staatsvolk nicht von ethnischen Kriterien abhängt, daß man aber durch Begrenzung der Einwanderung die kulturelle Identität erhalten wolle – und das kollidiert nicht mit dem Volksbegriff des Grundgesetzes.

Welchen Volksbegriff hat unser Grundgesetz?

Murswiek: Das Volk, dem das Grundgesetz die Souveränität zuspricht, ist nicht das ethnische, sondern das Staatsvolk. Und dem gehört jeder an – ist also „Deutscher im Sinne des Grundgesetzes“ –, der die deutsche Staatsbürgerschaft hat.

Natürlich ist das Staatsvolk nicht mit dem ethnischen Volk identisch, sonst wären nationale Minderheiten und Einbürgerungen nicht möglich. Aber hat das Staatsvolk des Grundgesetzes nicht auch eine ethnische Komponente? Denn es ist doch klar, daß nicht irgendein, sondern das deutsche Volk gemeint ist, oder? 

Murswiek: Man muß hier unterscheiden: Reden wir darüber, anhand welcher Kriterien bestimmt wird, ob jemand zum Staatsvolk gehört? Oder reden wir darüber, wie sich das Staatsvolk in seiner Bevölkerungsstruktur im großen und ganzen zusammensetzt? Die erste Frage ist klar dahin zu beantworten, daß die ethnische Zugehörigkeit keine Rolle spielt – mit einer Ausnahme, nämlich für Flüchtlinge oder Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit gemäß Artikel 116 Grundgesetz. Hinsichtlich Ihrer zweiten Frage entspricht es dem Selbstverständnis des Grundgesetzes, daß der von ihm konstituierte Staat, der in rechtlicher Kontinuität zu dem 1867/1871 entstandenen deutschen Staat steht, der Nationalstaat des deutschen Volkes ist. In ihm hat sich das durch gemeinsame Geschichte, Kultur und Sprache geprägte deutsche Volk zur politischen Nation vereinigt. Ethnisch-kulturelle Minderheiten haben dieser Nation und ihrem Staatsvolk von vornherein angehört, aber historisch-kulturelle Prägung und vor allem die gemeinsame Sprache sind das, was Juristen „Verfassungsvoraussetzungen“ nennen.

Was ist mit dem seit 1870 gültigen Staatsangehörigkeitsrecht, dem „Ius sanguinis“, zu deutsch: „Blutsrecht“. Ist dieses nicht auch Ausdruck einer Verbindung von deutschem und Staatsvolk?

Murswiek: Nein. Das Ius sanguinis stellt auf die Abstammung von Eltern mit deutscher Staatsangehörigkeit, nicht auf Ethnizität ab. Beispiel: Das Kind eingebürgerter Türken erhält danach die deutsche Staatsangehörigkeit, obwohl es ethnisch nicht deutsch ist. Das Ius sanguinis ist also das historisch überlieferte Prinzip des Erwerbs der Staatsangehörigkeit durch Geburt. Es gilt typischerweise in Nationalstaaten, weil es deren kulturelle Identität besser wahren kann als das Geburtsortsprinzip – das sogenannte Ius soli – das von Staaten vorgezogen wird, die sich als Einwanderungsstaaten definieren. Es spricht einiges dafür, daß das Grundgesetz das Abstammungsprinzip als ungeschriebenes Merkmal des Staatsvolks voraussetzt. Allerdings konnte sich diese Auffassung nicht durchsetzen, und so wurde im Jahr 2000 zusätzlich das Geburtsortsprinzip eingeführt.

Ist nicht der von Ihnen erwähnte Artikel 116, der von Flüchtlingen und Vertriebenen „deutscher Volkszugehörigkeit“ spricht, Beweis dafür, daß der Volksbegriff des Grundgesetzes doch eine ethnische Komponente hat? 

Murswiek: Nur insofern, als es dem Grundgesetz nicht gleichgültig ist, wie sich das Staatsvolk zusammensetzt. Es ist ein Beleg dafür, daß aus Sicht des Grundgesetzes das deutsche Staatsvolk durch das ethnisch-kulturell verstandene deutsche Volk wesentlich geprägt ist. Dies ändert aber nichts daran, daß die Zugehörigkeit zum Staatsvolk grundsätzlich unabhängig von ethnischen Kriterien ist und daß Menschen mit Migrationshintergrund, die die deutsche Staatsangehörigkeit haben, absolut die gleichen Staatsbürgerrechte haben wie ethnisch Deutsche.

Wenn, wie Sie sagen, die Sicht des Verfassungsschutzes unzutreffend ist, bereits ein ethnischer Volksbegriff sei verfassungsfeindlich: Wie ist dann das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts 2021 zu erklären, das diesem mit genau dieser Begründung gestattet, die Identitäre Bewegung als „gesichert rechtsextrem“ einzustufen? 

Murswiek: Das frage ich mich auch. 

Könnte die Urteilsbegründung des Verwaltungsgerichts Köln nun nicht ebenso ausfallen? 

Murswiek: Da in der Presseerklärung von einem „zentralen Politikziel“ die Rede ist, nach dem „Fremde möglichst ausgeschlossen werden sollten“, rechne ich eher damit, daß Köln sich auch hierauf berufen wird, nicht nur auf einen ethnischen Volksbegriff.

Der Berliner Politologe Martin Wagener vertritt in seinem neuen Buch die These, in Deutschland finde ein „Kulturkampf um das Volk“ statt. Hat er recht?

Murswiek: Was ich beobachte, ist eher ein Kampf um die Frage Beibehaltung oder Auflösung des Nationalstaats. Und in diesem Zusammenhang sehe ich den Versuch, das Ziel einer Bewahrung des Volkes im ethnisch-kulturellen Sinne zu diskreditieren und die deutsche kulturelle Identität durch Multikulturalismus zu ersetzen.

Und ist das aus Sicht des Grundgesetzes ein Problem?

Murswiek: Meiner Ansicht nach ja. 

Warum, wenn das Grundgesetz doch keine prinzipielle Verbindung zum deutschen Volk hat? 

Murswiek: Weil, wie gesagt, das Grundgesetz die Bundesrepublik Deutschland als Nationalstaat des deutschen Volkes konstituiert hat und die Wahrung seiner kulturellen Identität Staatsaufgabe ist. 

Einige AfD-Vertreter warnen deshalb vor dem „Volkstod“, und einer „Umvolkung“. Auch diese beiden Begriffe tauchen in der Presseerklärung des Verwaltungsgerichts Köln als Belege für eine mutmaßliche Verfassungsfeindlichkeit auf. Zu Recht? 

Murswiek: Das kommt darauf an, was mit ihnen verbunden ist. Wenn damit die Wahl nichtdemokratischer Mittel einhergeht, dann ja. 

Davon ist nicht die Rede. 

Murswiek: Die Verwendung der Begriffe allein ist kein Beleg für Verfassungsfeindlichkeit, ebensowenig wie allein das Bestreben, „das deutsche Volk in seinem ethnischen Bestand zu erhalten“, wie es in der Pressemitteilung heißt. Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem Urteil von 2001 festgestellt, daß die Wahrung der geschichtlich gewachsenen nationalen Identität beziehungsweise die Verhinderung von „Überfremdung“ Ziele seien, die als solche nicht gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verstoßen.

Glauben Sie, daß das Kölner Verwaltungsgericht dennoch genug Äußerungen von AfD-Politikern vorlegen wird, um sein Urteil ausreichend zu belegen? 

Murswiek: Das weiß ich nicht. Warten wir die Urteilsbegründung ab.

Spiegeln die Urteile der Verwaltungsgerichte Berlin und Köln möglicherweise die These Wageners vom „Kulturkampf um das Volk“ wider, oder ist es übertrieben, einen solchen Zusammenhang zu sehen? 

Murswiek: Die Art und Weise, wie der Verfassungsschutz mit dem Volksbegriff argumentiert, kann man im Sinne Wageners verstehen.

Künftige Richter werden mit einer ganz anderen Vorstellung von Volk aufgewachsen sein als wir heute. Wird die bisherige Verfassungsrechtsprechung in Sachen Volk, Nationalstaat und Verfassungswidrigkeit früher oder später auf diesem Wege umgestürzt? 

Murswiek: Selbstverständlich beeinflussen gesellschaftliche Vorstellungen juristische Auslegungen. Nehmen Sie etwa Homosexualität oder Ehe, die früher juristisch völlig anders gesehen wurden als sie von heutigen Richtern gesehen werden. Verwaltungs- und Verfassungsrichter sind heute anders geprägt als beispielsweise der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, für den es noch eine Selbstverständlichkeit war, daß Voraussetzung für eine gelingende Demokratie ein Mindestmaß gemeinsamer – kulturell geprägter – Grundüberzeugungen ist.






Prof. Dr. Dietrich Murswiek, der Völker- und Verfassungsrechtler, geboren 1948 in Hamburg, leitete bis 2016 das Institut für Öffentliches Recht der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg. Er ist Mitautor des „Bonner Kommentars zum Grundgesetz“, war Gutachter verschiedener Bundestagsparteien sowie Prozeßbevollmächtigter mehrerer Verfassungsbeschwerden. 2020 erschien zum Thema sein Buch „Verfassungsschutz und Demokratie. Voraussetzungen und Grenzen für die Einwirkung der Verfassungsschutzbehörden auf die demokratische Willensbildung“. 

 www.dietrich-murswiek.de

Foto: Verfall: „Für das Grundgesetz ist die Zugehörigkeit zum Staatsvolk nicht von der ethnischen Identität abhängig ... dennoch ist ihm nicht gleichgültig, wie sich das Staatsvolk zusammensetzt. Aus seiner Sicht ist es durch das ethnisch-kulturell verstandene deutsche Volk wesentlich geprägt“