© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/22 / 18. März 2022

John J. Mearsheimer. Der US-Politologe gibt dem Westen die Schuld am Ukraine-Krieg und ahnt einen Atomschlag voraus.
Prophet des Weltkriegs
Friedrich-Thorsten Müller

Vielleicht würde in der Welt manch großer Konflikt vermieden, wären in der Politik wieder Bildung und Sachlichkeit statt „Haltung“, Quoten und „Querschnitt der Gesellschaft“ gefragt. Zumindest beschleicht einen dieses Gefühl, wenn man dieser Tage an die Voraussagen des prominenten US-Politologen John J. Mearsheimer erinnert wird. Dem New Yorker hat der Experte für Internationale Beziehungen an der Universität Chicago soeben ein Interview gegeben, nach seiner Vorhersage einer „zertrümmerten Ukraine“ befragt – die bereits aus dem Jahr 2014 stammt. 

Damals war in Kiew, infolge der in der Tradition der Orangen Revolution von 2004 stehenden Euromaidan-Bewegung, gerade der moskaufreundliche Präsident Wiktor Janukowytsch gestürzt worden, um die Ukraine an die EU und Nato heranzuführen. Ein Vorgang, den Mearsheimer als Putsch qualifizierte. Vor allem aber erinnerte er daran, daß es in der Geopolitik als lebensgefährlich gelte, die Sicherheitsinteressen eines „regionalen Hegemons“ zu übergehen – konkret also, ein Land, das Rußland seiner Einflußsphäre zurechnet, an den Westen anzuschließen.

In trauter Eintracht mit dem Doyen der amerikanischen Außenpolitik, Henry Kissinger, empfahl der heute 74jährige daher, der Ukraine keine Avancen zu machen und sie stattdessen in einer gut ausgehandelten Neutralität zu halten. Denn Moskau würde sich durch einen Dreiklang Nato-Partner, EU-Mitglied und westlich-liberale Demokratie im Land rechts und links des Dnepr als existentiell bedroht betrachten, wodurch es unberechenbar würde – was früher oder später zu einer „zertrümmerten Ukraine“ führen könne. Ohne konkret zu sagen, daß das eine vollständige Eroberung des Landes bedeuten müsse, erscheint diese Warnung im Lichte der aktuellen Ereignisse jedoch wie Prophetie. Weshalb man sich der Kassandra nun verstärkt erinnert. 

Die Ukraine hat für Rußland solche Wichtigkeit, daß es am Ende zum Einsatz von Kernwaffen greifen könnte.

Doch keineswegs jeder ist voll Bewunderung für die Voraussicht des gebürtigen New Yorkers, der erst die Militärakademie West Point absolvierte und als Offizier der Luftwaffe diente, bevor er 1978 Mitarbeiter des Washingtoner Brookings-Instituts, dann Assistent in Harvard und schließlich Experte am Council on Foreign Relations in New York wurde, um 1982 dem Ruf nach Chicago zu folgen. Er verfaßte mehrere Bücher wie „The Tragedy of Great Power Politics“ (2001) und „Why Leaders Lie. The Truth about Lying in International Politics“ (2011). Doch keine Publikation sorgte für solches Aufsehen wie sein 2007 auch auf deutsch erschienenes Buch „Die Israel-Lobby. Wie die US-Außenpolitik beeinflußt wird“, das auf einen Artikel für die Zeitschrift The Atlantic Monthly zurückgeht, den abzudrucken diese jedoch verweigerte. 

Die Ansicht Mearsheimers, eine proisraelische Lobby bringe die US-Außenpolitik auf einen Kurs, der nicht mehr den Interessen des Landes entspreche, führte ebenso zu Kontroversen wie 2014 seine Analyse kausaler Hauptverursacher der Ukraine- und Krim-Krise seien USA, Nato und EU. Und tatsächlich kann man nur hoffen, daß die Kritiker seiner Ansichten recht behalten werden. Denn Mearsheimer sagt voraus, da Rußland der Ukraine solch strategische Wichtigkeit zumesse, könne es durchaus bereit sein, notfalls auch vor dem Einsatz von Atomwaffen nicht zurückzuschrecken.