© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/22 / 18. März 2022

Ein Kampf um Kiew
Krieg in der Ukraine I: Das Standhalten oder Fallen der Hauptstadt kann Symbolwirkung für die Ukraine haben. Wie wird der Kampf wahrscheinlich aussehen?
Mathias Pellack

Ein Zweikampf könnte den Ukraine-Krieg entscheiden. Tesla-Gründer Elon Musk fordert den russischen Präsidenten Wladimir Putin zum Duell. Was wie der Scherz eines weltentrückten Superreichen klingt, hat zwei todernste Seiten. Zum einen hielt Musk bisher immer Wort. Zum anderen aber könnten bald Kämpfe Mann gegen Mann den Krieg in Kiew entscheiden.

Die Ukraine hat alles getan, sich auf den russischen Angriff auf die Hauptstadt am Dnjepr vorzubereiten, während immer mehr Russen beiderseits des Flusses vorrücken, um den Ring um die Stadt zu schließen. Kiew, so glauben einige Analysten, ist das Schlüsselziel von Putins Angriff. Hier ist das Machtzentrum, das Parlament, die Werchowna Rada, hier hält sich der in sozialen Medien zum Helden der Ukraine erklärte Präsident Wolodymyr Selenskyj auf und stärkt die Kampfmoral, das gewichtigste Pfund der Ukrainer.

Auch wenn der eigentliche Angriff noch nicht begonnen hat, lassen sich einige Schritte und bestimmte Taktiken vorausahnen. So erklärt John Spencer vom Modern War Institute in Westpoint, USA, die Lage der Ukrainer in Kiew auf lange Sicht für aussichtslos. Die einzige Chance bestehe darin, die Kosten für Rußland so hoch zu treiben, daß Putin einem Frieden zustimmt, bevor er seine Forderungen militärisch durchgesetzt hat. Die Bedingungen Rußlands sind mehr oder minder abgesteckt: Anerkennung der Krim sowie der „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine als russisch, Abtretung der Schwarzmeerküste sowie das Absehen von einem Nato-Beitritt, möglicherweise gar die  gesamte Ukraine östlich des Dnjepr. Truppenbewegungen stützen diese Erwartung.

Alles, was ihm und seinen Panzern noch im Weg steht, sind die großen, gut befestigten ukrainischen Städte, die russischen Verbände, mit Ausnahme von Cherson, bisher umfahren haben. Der Kampf um Kiew kann dort Symbolwirkung entfalten. 

Die Hauptstadt hat sich aufmunitioniert. In sozialen Medien sind Barrikaden und Truppen, die sich in Gebäuden verschanzen, zu sehen. Genau das empfiehlt auch der Irak-Kriegsveteran Spencer für den Stadtkampf. Denn aus nächster Nähe zeigt die russische Panzerübermacht ihre verwundbaren Stellen, läßt sich leichter anhalten oder ausschalten. Taktiken, die auch Kämpfer in Syrien angewandt haben, um Assads Tanks auszuschalten. 

So können die Verteidiger selbst eine Übermacht an Mannstärke und Waffen mit leichteren Panzerabwehrwaffen oder sogar Molotowcocktails auskontern. Da die russische Seite das aber erwartet, kann sie ihre überlegene Artillerie – Rußland beisitzt das größte Arsenal weltweit – und ihre Lufthoheit ausspielen und jede Stellung zerbomben. 

Bei derartigen Gegenschlägen bieten Unterkellerungen oder die große und bis zu 100 Meter tiefe Kiewer U-Bahn Zuflucht. In jedem Fall ist ein Stellungswechsel nach einem Schlag gegen überlegene angreifende Truppen geboten, erklärt Spencer im Podcast. Allerding hätten die Verteidiger bei einem massiven Beschuß wiederum einen neuen Vorteil. Die Granaten zerstörten Gebäude, deren Schutt aus Beton und Stahl den Angreifer weiter hindere, seine überlegene Panzerung und Feuerkraft in Stellung zu bringen. Deshalb ist es um so wichtiger, unerkannt zu bleiben, da das heutige operationelle Umfeld mit starker Luftaufklärung es erschwert, sich zu verbergen. Der Major weiß: „Zivilisten in Aleppo spannten zehn Meter hohe Planen zwischen Gebäuden auf, um Scharfschützenangriffe zu verhindern.“ Gleiches machte Isis, um Luftangriffe zu verhindern.

Einen großen Vorteil hätten auch „Mauselöcher“ und Tunnel geboten. „Straßen und Gassen in städtischen Kriegsgebieten können sowohl für Angreifer als auch für Verteidiger zur Todesfalle werden.“ Weshalb Soldaten Löcher in Wände schlagen oder sprengen sollten, um unerkannt die Stellung wechseln zu können. All das führt dazu, daß sowohl ukrainische, aber auch russische Soldaten immer wieder Stellungen in Wohngegenden errichten. Für den Gegner stellen diese Gebäude dann Ziele dar. Taktische Erwägungen, die letztlich dazu führen, daß immer wieder zivile Opfer zu beklagen sein werden.

So meldete die ukrainische Nachrichtenagentur Unian am Dienstag frühmorgendliche Granateneinschläge in drei Hochhäusern im Kiewer Nordwesten. Bilder zeigen ein vollständig in Flammen stehendes sechzehnstöckiges Wohnhochhaus. Mindestens zwei Menschen kamen ums Leben, 35 konnten gerettet werden. In jedem Fall erwartet der Irak-Veteran Spencer für die Zeit vor dem Angriff schweren Beschuß durch russische Artillerie und Luftwaffe. Erst danach wird es in den Straßen zu Kämpfen Auge in Auge kommen.

Foto: Helfer führen Verwundete aus den durch russische Granaten zerstörten Häusern: Todesfalle Stadt