© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/22 / 18. März 2022

„Wir sind sehr patriotisch“
Interview: Der ukrainische Folk-Rock-Musiker Oleh Skrypka über den Krieg, Vaterlandsliebe und die Wiedergeburt der Nation
Dieter Stein

Herr Skrypka, wo halten Sie sich derzeit auf? Wie gehen Sie mit dem Krieg um? Und wie geht es Ihren Freunden und Verwandten?

Oleh Skrypka: Zur Zeit befinde ich mich mit meiner Frau, meiner Mutter und meinen vier Kindern in meinem Haus in Kiew. Wir haben immer noch Strom und Internet hier. Bis jetzt geht es uns allen gut. Manchmal gehen wir einkaufen. Einige Geschäfte haben noch geöffnet. Das Sortiment ist zwar nicht mehr allzu groß, aber es gibt genug zu essen für alle.

Viele Ihrer Songs haben nun einen ganz ausdrücklich patriotischen Charakter. In einem Ihrer neueren Lieder posieren Soldaten mit ihren Waffen vor der Kamera. Für den deutschen Betrachter wirkt das ziemlich martialisch. Ist das typisch für die derzeitige Musik-Szene in der Ukraine?

Skrypka: In den neunziger Jahren ist unser Land in die Unabhängigkeit entlassen worden. Aber diese Unabhängigkeit war nicht echt. Wir standen nach wie vor unter dem kulturellen und ökonomischen Druck Rußlands. Künstler wie ich haben damals schon verstanden, daß man etwas gegen diese Propaganda tun muß. Deshalb habe ich mich mit einigen Rockmusikern zusammengesetzt, um alte ukrainische Musik neu aufzunehmen. Da waren Armeelieder mit dabei und andere Heldengeschichten. Normalerweise spiele ich mit meiner Band eher fröhliche Sachen. Bei diesen Songs war das anders. Ich denke, es ist normal für Künstler, ein besonderes Gefühl für die Zukunft zu haben. Mir jedenfalls standen viele der Probleme schon damals vor Augen, die wir heute mit Rußland haben. Deshalb habe ich all diese patriotischen Lieder eingespielt.

Wie reagieren Ihre Musikerkollegen in der Ukraine auf den russischen Einmarsch? Helfen sie mit ihrer Kunst? Fliehen sie? Oder greifen sie zu den Waffen?

Skrypka: Heute ist die ukrainische Gesellschaft sehr patriotisch. In der Vergangenheit war das anders. Die Sympathie mit Rußland war sehr groß. Auch bei Künstlern hierzulande. Sie haben nicht verstanden, daß diese Zuneigung zum großen Bruder eine echte Gefahr für die Existenz der Ukraine darstellt. Jetzt ist das jedem klar. Die Leute melden sich freiwillig für die ukrainische Armee oder versuchen irgendwie anders zu helfen. Beispielsweise wenn es um die Versorgung von Kindern oder die notdürftige Reparatur von Gebäuden geht. Da ist eine große Solidarität in der ukrainischen Gesellschaft wachgeworden. Auch bei Künstlern. Es gibt allerdings auch Künstler, die das Land in den vergangenen Wochen verlassen haben.

Welche Rolle spielen Musik und Lieder im ukrainischen Selbstverständnis?

Skrypka: Für Ukrainer war ihr Liedgut immer schon besonders wichtig. Über viele Jahrhunderte hatten die Ukrainer keinen eigenen Staat. Also mußten sie ihr nationales Selbstverständnis aus ihrer Musik schöpfen. Deshalb haben wir Ukrainer auch eine ganze Reihe traditioneller und moderner Volkslieder.

In welcher Tradition sehen Sie das ukrainische Bewußtsein insgesamt verwurzelt? Selbst heute noch gibt es Stimmen, die behaupten, daß die ukrainische Nation eine Art „Kunstprodukt“ darstelle, wie es auch Putin sagt. 

Skrypka: Unsere Geschichte und unsere Kultur reichen sehr weit zurück. In der Ukraine sind sich viele Menschen dessen nicht bewußt, aber wir leben in dieser Tradition. Daß unsere Kultur so tief in unserem Leben verwurzelt ist, hat sie letztendlich auch gerettet. Auch durch die 300 Jahre hindurch, in der wir Ukrainer keinen eigenen Staat hatten und von Rußland besetzt waren. Unsere Tradition hat uns mit unserem Land verbunden, und wenn wir diesen Krieg gewinnen sollten, wäre das für uns ein kompletter Neuanfang.

Sie und Ihr Sohn Ustym haben ein hundert Jahre altes Lied neu vertont. Welche Bedeutung hat dieser Song? Und welche Rolle spielt die Pfadfinderbewegung, die man in dem Musikvideo zu dem Lied sehen kann, für den ukrainischen Patriotismus?

Skrypka: Die Pfadfinderbewegung war in der Ukraine sehr populär. Nachdem die Ukraine im 20. Jahrhundert unabhängig wurde, breitete sich dieser Trend vom Westen des Landes über Kiew bis in den Osten aus. Die Pfadfinder sind wirklich sehr wichtig für Kinder und Jugendliche in der Ukraine. Ich sehe das selbst an meinen eigenen Kindern: Sie kommen immer wie verwandelt von den Lagern zurück. Irgendwann hat mich meine Frau darauf hingewiesen, daß die Jungen und Mädchen lauter schöne Lieder singen, von denen es aber nur sehr schlechte Aufnahmen gibt. Also habe ich diese Songs zusammen mit meiner Band neu aufgelegt. Mein Sohn war damit einverstanden, den Gesangspart zu übernehmen – und jetzt haben unsere Kinder ein schönes patriotisches Lied.

Sieht sich die Ukraine eher als Teil des Westens oder gehört sie zu einem „Mitteleuropa“?

Skrypka: Ich weiß nicht, ich bin kein Politiker. Während der ersten Revolution 2004 und nach 2014 haben die Ukrainer eine große Sehnsucht nach der europäischen Gemeinschaft verspürt. Es gibt jetzt die reale Möglichkeit für uns, in diese europäische Familie aufgenommen zu werden. Das ist sehr gut. Wir sehen aber auch, daß das alles nicht so einfach ist. Die Staaten der EU müssen sich erst einmal untereinander darauf einigen, uns eine Chance zu geben. Wir sind da nicht mehr so naiv wie in der Vergangenheit. 

Führt der Krieg in der Ukraine zu einer „zweiten Geburt einer Nation“, wie es Historiker nennen? Erfahren viele Ukrainer im Moment wirklich, was es heißt, Teil einer Nation zu sein?

Skrypka: Sie haben schon die Antwort selbst gegeben! Wir Ukrainer erleben tatsächlich gerade die Wiedergeburt unserer Nation. Es fällt mir zwar schwer, das zu sagen, aber in gewisser Weise – so bitter das klingt – haben wir diesen Krieg gebraucht. Es ist, als ob Gott uns diese Katastrophe geschenkt hat, damit wir Ukrainer endlich Ukrainer werden. Die Russen leben immer noch in der Vergangenheit. Sie müssen ihre aggressive Art zu denken und zu handeln endlich aufgeben. Vielleicht geht es am Ende nicht nur um die Wiedergeburt der ukrainischen Nation, sondern um die Geburt einer neuen Gesellschaftsordnung weltweit.






Oleh Skrypka ist einer der bekanntesten Rockmusiker der Ukraine. Geboren wurde er 1964 in Ghafurow (Tadschikistan) als Sohn eines Ukrainers und einer Russin. Noch zu Sowjetzeiten gründete er 1986 in Kiew seine Rockband „Vopli Vidopliassova“. Die Musik ist eine Mischung aus Rock’n’Roll und Ethno-Folk. Mit seinem Sohn Ustym nahm er 2021 ein altes patriotische Pfadfinderlied („Wir wachsen“) auf, das als Musikvideo seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine starke virale Verbreitung erfährt. Die Langfassung des Interviews mit verlinkten Musikvideos online unter:

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